Frühlingsrolle
Als Frühlingsrollen (chin. Flülingslollen) bezeichnet der Chinarestaurantbesitzer köstliche Undefinierbarkeiten, die er unter dem Vorratsschrank mit einer halben Kelle Krautsalat zusammenrollt und mit einem Reisteig-Alibi in einer Sojasaucenpfütze serviert. Neben dem Hackfleisch von wer weiß was für einem Tier enthalten Frühlingsrollen viel gutes Feng Shui, einige recyclete Altchinesen und die komischen Stückchen, die sich auch in der typischen namenlosen Vorsuppe finden lassen. Allerdings ist in Frühlingsrollen weniger Glück enthalten als in den Glückskeksen, die es erst zum Nachtisch gibt, was schade ist, denn Glück kann man bei einem chinesischen Drei-Gänge-Menue gut gebrauchen.
Dieser Artikel behandelt die Vorspeise Frühlingsrolle. Für das gleichnamige Ritual siehe Frühlingsrollen. |
Ursprünglich soll die Frühlingsrolle ein Teil der Pizza Vier Jahreszeiten gewesen sein, die durch exzessive Calzonierung und Vorkau der Zutaten von der internationalen Fast-Food-Kommission San Bernardino als unungesund erachtet und aus dem Kanon der westlichen Schnellimbissprodukte entfernt wurde. Natürlich ist das eine glatte Erfindung, jeder weiß, dass die internationale Fast-Food-Kommission schon seit Jahren in Michigan tagt. Was das für ein Frühling ist, der heute noch in die Frühlingsrollen kommt, darüber mag man indes gar nicht nachdenken. Es steht nur zu hoffen, dass es nichts mit der erwachenden Libido zu tun hat.
Erfindung
Die Frühlingsrolle wurde erfunden, das muss man ganz klar so sagen. Chinesische Meisterköche versuchen immer wieder, die Naturverbundenheit der fernöstlichen Speisekultur über die Palette der einheimischen Kulturprodukte zu erweitern, wie mit Sushi, einem sich selbst reproduzierenden Habitat, das in sogenannten "Seen" lebt. Als verzehrfertiges Frittat mit einer Körpertemperatur von molligen 60 Grad fügt sich die Frühlingsrolle nicht in diesen Kanon der Frisch- und Lebendzubereitung ein, vielmehr müsste ein Postulat der Zugehörigkeit zur chinesischen Kulinaristik unter modernen Gourmets auf skeptische Blicke und schüttelnde Doppelkinne treffen.
So hat auch der chinesische Ernährungswissenschafler Shin Suey, in seiner unter dem Pseudonym Chop veröffentlichten fünfbändigen Studie über die Kulturgeschichte der Frühlingsrolle seine Skepsis an der natürlichen Herkunft des Produkts reklamiert. Chops Ausgangspunkt ist, dass immer weniger lebende Tiere in siedendem Fett baden, weil die Sensibilisierung für Ressourcenknappheit und Umweltschutz auch in der Tierwelt angekommen ist. Daher ist eine konkrete Zuordnung der beschreibbaren Fauna auf den Inhalt einer Frühlingsrolle in Zweifel zu ziehen. Doch Chop ging noch weiter. Mit einer fundierten Quellenstudie auf den Spuren der Frühlingsrolle etablierte er durch einen grandiosen terminus ante quem eine gängige ernährungswissenschaftliche These, die bis heute unbestritten Legion ist: die Frühlingsrolle ist kein genuin fernöstliches Produkt! Sie wurde vom Kaufmann und Industriellen Aloys Winter 1890 als Herbstklumpen in Shang Hai entwickelt und zwar im Sommer. Winter strebte damit die schnelle Sättigung auf chinesischen Straßen als Selbsthilfe an, um nicht durch Hunger in einen dieser kleinen fernöstlichen Eckläden gezogen zu werden und am Ende noch einen Walpenis in der Dose kaufen zu müssen. Er schaffte damit ein Konkurrenzprodukt zur erstaunlich einseitigen und monopolartigen chinesischen Schnellimbissware: dem Reis.
Herstellung
Tradition
Frühlingsrollen sind die Maultaschen Asiens und eine Entschuldigung der chinesischen Kochkultur für ihre Neigung, einfach nichts wegschmeißen zu können. Doch das undefinierbare Innerste mit seiner verdächtigen Zutatenvarianz gehörte in dieser Form nicht immer zum Produkt. In ihrer Ursprungsvariante aus dem späten 19. Jahrhundert, war lediglich der Inhalt essbar. Er bestand aus teerhaltigem Fisch, an dem diverse Kohlarten mit den darauf befindlichen Insekten klebten, abgefallenen Pflanzenteilen, mit denen selbst die eigentümlichen Gemüse ein Problem hatten und jeder Menge fremdländischer Kultur mit Knoblauch; vor allem und hauptsächlich Knoblauch. Weil die breiartige Masse schnell in der Hand zerging oder wegen den aus Frischegründen nicht ganz gegarten Käfern das Weite suchen wollte, wickelten es die Straßenverkäufer in Papier ein.
Gerade in der Hektik des damaligen Alltags, in der die Ochsenkarren alle zwei Minuten für köngliche Eskorten von der Straße gezogen werden mussten, passierte es immer wieder, dass einem Frühlingsrollenesser das ganze Zeug aus der Papierrolle quatschte und auf den Boden fiel, was sie zweifelsohne qualitativ aufgewertet hätte, wenn es in den belebten Straßen nicht sogleich breitgetreten, von gierigen Resteverwertern vom Schmutzpfad gekratzt und zu Cōng yóubǐng weiterverarbeitet worden wäre. Während der Hungerkrisen der 20er Jahre, so erzählt eine Legende, habe ein junger Student, der sich nur eine Frühlingsrolle in der Woche leisten konnte, genau das erlebt und vor lauter Wut über den Verlust den Rest der breiigen Masse in eine nahegelegene Nahrungsbude gespuckt, wo der zerkaute Klumpen im siedenden Fett eines Woks landete, dessen Spritzer dem dortigen Koch das Augenlicht kosteten. Er selbst hatte das zunächst gar nicht bemerkt, nur seine Gäste bekamen es später mit, als er ihnen neben dem frittierten Flugspeichel Fugu "Müllerinnen Art" mit einem kleinen Schirmchen in der Schwimmblase servierte.
Moderne
Die entdeckte Frittierung bewirkte einen Paradigmenwechsel in der Frühlingsrollenherstellung. Fortan konnte alles frittiert werden, was im Querschnitt wie Nahrung aussah. In China kam das rollenartige Gebilde seit den ersten kulturellen Berührungen mit dem Westen zu großer Berühmheit, weil es auf eine bessere Art die europäische „Wurst“ ersetzte, die bei Chinesen verpönt war, weil sie sich vor der Vorstellung ekelten, etwas zu essen, was eigentlich zur Produktion von Essen da war und das, obwohl in einigen nordöstlichen Teilen des Landes der Koch noch zur Mahlzeit gehörte.
Am Anfang des modernen Produktionsprozesses einer Frühlingsrolle stehen etwa handtellergroße Reisteigplatten aus dem Real, bei denen der Koch so tut, als hätte er sie selbst gemacht. In seltenen Fällen schlachtet ein Koch auch einen Croissant und zieht ihm die Haut ab, doch das hat das globale Marameladenkartell 2009 in Marseille unter schwere Strafe gestellt. Zudem sind viele Reisteigplatten durch Dünn- und Plattwalzen so weit dehnbar, dass sie selbst nach dem Frittieren noch aussehen wie eine Aquarienglasscheibe und daher per se besser geeignet. Viele chinesische Köche können nämlich gerade bei Fleischzulagen nicht den Drang nach Frische unterdrücken, sodass der Gast gut aufpassen muss, dass ihm beim Bestellen einer Frühlingsrolle mit Hühnchen nicht plötzlich ein Schnabel oder eine Kralle entgegenkommt. Gute chinesische Restaurants fragen sogar vorher, ob man die Frühlingsrolle blutig oder medium haben will. Weil die chinesischen Fleischwölfe so groß wie Gartenhäcksler sind, ist das dann logischerweise auch mit Hasen, Gänsen oder Pferden möglich und dementsprechend dehnbar muss der Teig sein. Über einige Grobheiten der so gut wie durchsichtigen Rolle kann der beschämte Koch ja von innen ein paar Algen legen, daher führt manch grobschlächtige Masse manchmal zu wahren Frühlingsrollenmonstern, die ein Koch entweder meterweise frittieren muss oder gleich zwischen einem an der Decke befestigen Wok und dem Herd hin- und herschwenkt. Einige überleben so eine Prozedur nicht und werden Tage nach der Zubereitung erschlagen in einem riesigen Fettfleck hinter dem Kochfeld gefunden.
In die absolut dubiose Füllung mengen sich fast immer Zutaten, die dem Thema der Frühlingsrolle gerecht werden, von Frühchen Frühlingszwiebeln bis zu Frühblühern wie Krokussen, Tulpen oder Chrysanthemensamen. Auch gehäckselte Glasnudeln werden immer beliebter, nicht mal unbedingt als Nudeln. Der Fast-Food-Trend bewegte sich in den letzten Jahren in Richtung Minifrühlingsrolle, die einfach wie eine Tablette geschluckt werden kann und daher ein recht überschaubares Zutatensortiment bietet. Kleinstzutaten wie Glas oder chinesischer Verkehrsstaub fanden hier eine sinnvolle Verwendung und kommen mit ihrer jeweiligen Note besser heraus als in den gehaltvollen Massen ihrer fülligen Kollegen. Wer allerdings beim Bestellen einer Minifrühlingsrolle nur eine frittierte Olive und einen Dip bekommt, ist vermutlich einfach betrogen worden.
Kulturelle Bedeutung
In der eklektizistischen chinesischen Kultur hat die moderne Frühlingsrolle gleich mehrere Funktionen übernommen. "Traditionell" wird sie zum Neujahrfestfest gegessen, bei dem sie Seidenraupen ersetzt, die ja zu dieser Zeit noch nicht schlüpfen und daher auch noch nicht gegessen werden können. Das eifrige Schlüpfen der Raupen ahmen chinesische Hausfrauen mit einer inflationären Frühlingsrollenproduktion nach, die nicht nur den ganzen Tag über anhält, sondern die gesamte Vorratskammer eines kleinen Bauernhofs aufbraucht, sodass der armen Landbevölkerung für das Restjahr nichts weiter übrigbleibt als karge Reisfelder zu bestellen und hungernd das nächste Neujahrsfest zu erwarten; eine seltsame Kultur.
Dafür lassen sich chinesische Haushalte an Neujahr nicht lumpen, überall kullern Frühlingsrollen über die Straße, jeder kann sie vom Bordstein auflesen und mitnehmen oder gleich vor Ort verzehren. Den Höhepunkt des Fests bildet in vielen Familien ein Frühlingsrolleneimeressen, das solange geht, bis kein Familienmitglied auch nur eine Frühlingsrolle mehr sehen kann und sämtliche Innenräume in Mund- und Rachenraum, unter der Zunge, hinter der Lippe, in den Backentaschen und der Nase voller Hackfleisch sind. Der jüngste der Familie erhält zudem als symbolträchtige Verehrung der Seidenproduktion und ihrer heute verstaatlichten Reichtümer eine Frühlingsrolle mit heißem Käse, den er als langen Faden erst komplett aus der Rolle auf seine Gabel drehen muss, bevor er sie essen darf. So kann leicht der Eindruck entstehen, die Chinesen spinnen, der sich aber schnell wieder verliert, wenn der Rest des nie aufgezehrten Eimers dann mit einer Ladung Schwarzpulzer farbenprächtig in den smogumnebelten Nachthimmel geschossen wird und es überall kleine verkohlte Kraut- und Hackstückchen regnet.
Weiterhin symbolisieren Frühlingsrollen in der fernöstlichen Speisekultur die Finger, deshalb werden sie in China auch zum Totengedenkfest gereicht, um daran zu erinnern, dass der Körper des Verstorbenen im Kreislauf des Lebens begriffen ist (denn ein Toter hat nur zehn eigene Finger). Dieser fast christliche Brauch findet sich überall in Südostasien, selbst als Gemüseopfer für indonesische Vogelgötter. Die einzige Ausnahme ist Thailand, wo die Familien gemeinsam mit den Fingern essen. Da aber die Frühlingsrolle in ihrer runden, fingerartigen Form so gut wie jedes Loch und jede Lücke in der gemeinsamen asiatischen Erinnerungskultur füllt, hat sie sich als Finger Food schließlich auch global durchsetzen können und dient mittlerweile ganz ohne Sitz im Leben in verschiendensten Kulturkreisen als Symbol für Reichtum, Vielseitigkeit und Anteilnahme, z.B. wenn Kevin-Chantal und Jaqueline-Leonie aus Porz zu Weihnachten statt dem üblichen Spaghettigericht mal etwas besonders geboten werden soll.
Der richtige Verzehr
Der echte Liebhaber und Feinschmecker kann seine Frühlingsrolle nur genießen, wenn sie schon vom Alter her zum Geschmackserlebnis einer Klopapierrolle herabgesunken ist, also nicht nur pappig und schlecht zu schneiden, sondern auch lange abgehangen. Mit diesem Food Trend reagiert die Feinschmeckerszene auf den Antagonismus zwischen nicht enden wollender Völlerei bei gleichzeitiger Gier nach der absoluten Frische in ordinären Chinarestaurants. Seit der Erkenntnis, dass man durch Frittieren Nahrung konservieren kann, sorgen chinesische Lieferdienste, deren Speisekarte sich quasi um die Frühlingsrolle herum gebildet hat, für endlosen Nachschub der Rolle in großen Waschzubern und Regentonnen.
Manch innovativer chinesischer Schnellimbiss hat schon Frühlingsrollenspender zur Selbstbedienung angebracht, die er mit monatelang im Voraus produzierten Waren bestückt.
Eine wirklich lang gelagerte Frühlingsrolle ist natürlich für den Laien schwer erkennbar, da weder die Füllung und noch viel weniger der Geschmack der Rolle Auskunft über ihr Alter geben. Vielmehr verraten die Jahresringe der Frittierölkruste im Durchschnitt, wie oft die Frühlingsrolle schon verzehrfertig gemacht wurde. Zudem sollte eine Rolle mit dem richtigen Alter laut „Kuckuck“ rufen, wenn man mit der Gabel in sie hineinsticht, denn ein bisschen Frühling muss auch bei einer meterdicken Frittierschicht noch enthalten sein.
Selbst wenn sie die richtige Frühlingsrolle bestellt haben, blamieren sich aber viele Chinarestaurantgäste spätestens beim Essen, denn die wenigsten wissen, dass Frühlingsrollen traditionell gezutschelt werden, um möglichst wenig Frühling (eine so kostbare Zeit) verloren gehen zu lassen und die übriggebliebene Kruste mit den Stäbchen zerkrümelt wird, um sie als Beilage zu essen. Manch einer verfällt auf grundfalsche Klischees und bestellt womöglich noch eine Reisbeilage zur Frühlingsrolle, wo doch jeder weiß, dass trockener Reis im Land der Arbeit ein Hauptgericht ist, während die gehaltvolle Rolle lediglich als Vorspeise taugt. Wer dann noch Sojasauce aus einer deutschen Sauciere über diese Katastrophe gießt, hört jeden umsitzenden Einheimischen bei jedem Bissen nur entrüstet mit dem Unterkiefer flattern. Diese Missverständnisse zeigen, dass es die Frühlingsrolle geschafft hat, entkoppelt von ihren flachen, kulturellen Wurzeln und millionenfach in die Welt hinausexportiert, eines der letzten großen Geheimnisse der traditionsreichen, asiatischen Kultur zu bewahren. Wenn man ehrlich ist, dann möchte man auch gar nicht wissen, wer da wieder vorm Asia Palace im überlebensgroßen Foodmaskottchenkostüm die Frühlingsrolle spielt, denn was für eine dilatorische, ja, desillusionierte Wirkung muss es haben, wenn man am Ende weiß, dass es nur der Langzeitstudent Torben-Pasqual war, der im nächsten Monat sein drittes Kind am Studentenwerk vorbeibringen muss?