Goodbye Deutschland! Die Auswanderer
Bei Goodbye Deutschland! Die Auswanderer des ehemaligen Nachrichtensenders und jetzigen 0815-Fernsehladens VOX, der sonst von anderen Anstalten bereits rauf- und runtergespielte Formate abzutragen hat, handelt es sich nicht um eine reine Dokumentation. Sicher buhlt man mit deren Authentizität und Seriosität wie ein kleines Kind mit charmanten Zahnlücken um ein Eis, doch geht man auf Nummer Sicher und belebt vor allem das bisher dort unterbesetzte Sitcom-Genre: Meist sieht man herumsitzende, ratlose Menschen, die unfreiwillig komisch wirken.
Konzeption
So wie bereits in vergangenen Jahrhunderten Reiseliteratur bei der Bevölkerung extrem beliebt war, befasst man sich heute gern mit den Themen "Auswanderung und Fernweh" und kann sich des Zuschauerzuspruchs sicher sein. Dabei macht man sich zunutze, dass sich die zu- und abgehenden Menschenströme in Mitteleuropa neu dimensionieren. Noch nie war Auswandern als alternative Freizeitbeschäftigung attraktiver! Früher stellte man Wirtschaftsflüchtlinge vor allem in der Einreisestatistik fest. Heute gibt es aber immer mehr Landsleute, die im Ausland ihr ökonomisches Glück versuchen und dafür sogar ihren statistisch gesicherten Job aufgeben. Die Helden heutiger Dokumentationen eint, dass sie alltäglicher, aber eben auch mutiger als frühere Vorbilder geworden sind. Es sind nicht mehr millionenschwere Steuerflüchtlinge, die mit schwarzen Koffern zwischen den Beinen auf der hinteren Sitzbank einer Cessna durch den Busch geflogen werden. Die braungebrannten, todesmutigen Kerle, die sich selbst ihre Wunden zunähen und am Abgrund hängend mit dem anderen Arm noch eine Jungfrau retten, sind ausgestorben, weil diese Weicheier keiner mehr sehen will! Mit diesen Resten an verträumter Vorstellung über die Auswanderung und ihren Umständen räumt die Sendung gnadenlos auf. Heute kommen die Ausreisenden nur mit einem ersparten Handgeld ohne Schutzimpfung aus einem kaum klimatisierten Billigflieger, mit schlechtem Englisch und noch schlechteren Zukunftsaussichten! Man begreift, dass das viel existenzverachtender ist, als frühere Indianer-Jones-Verschnitte je zu Werke gehen konnten! Nach der Rettung der Welt setzte man sich damals zufrieden in die Hütte und zog bestens versorgt am Pfeifchen. Die typischen Protagonisten dieser Sendung stehen dann aber noch lange verzweifelt am Straßenrand und wissen nicht, was morgen ist. Dabei bleibt verwunderlich, dass sie regelmäßig überraschter als jeder Zuschauer sind, dass es nach drei Wochen Ausland doch nicht mit dem Aufbau einer neuen Existenz geklappt hat. So manifestiert sich das heutige Trash-TV: es wird einfach nichts mehr weggeworfen.
Psychologische Tiefe
Was "Goodbye Deutschland" von so vielen schwach (intellektuell) budgetierten Sendungen unterscheidet, diese aber auch für den anfangs unmotiviertesten Fernbedienungs-Jongleur so bedeutsam macht, ist ihre psychologische Tiefe. Es wird nämlich immer dann bewegend, mitreißend, unterhaltsam und deswegen bei Nachahmungsversuchen auch so gefährlich, wenn Träume wahr zu werden drohen. Wer wünscht sich nicht, aus seinen sprichwörtlichen vier Wänden auszubrechen, der täglichen Fronarbeit zu entsagen und endlich "etwas" zu erreichen, wo man doch das Potenzial "dazu" in sich schon lange schlummern, klagen oder gar bellen hörte? Gern möchte man in den propagierten Chorus einstimmen: Endlich raus aus Hartz IV - wir hauen ab!
Neidisch erblickt man ausgesuchte Dummies, die vor atemberaubende Kulissen gesetzt werden, während unmenschlicher Anstrengungen, am vermeintlichen Traumort Fuß zu fassen. Daneben gibt es noch nervige Teenies, blökende Babies und verblödete Sechstklässler, die schon mit der deutschen Sprache kaum zurande gekommen waren. Beziehungskonflikte brechen auf wie die offenen Beine der 70jährigen Oma. Sie erhält von dem fernen Land Postkarten, die zunächst von Glück und Seinfindung strotzen - "Liebe Omi, alles ganz ganz toll - wir müssen uns nur noch zurechtfinden." Damit wird unbewusst der allergrößte Teil des neuen Daseins verniedlicht, fast unterschlagen, als handelte es sich beim "Zurechtfinden" ums Schuhe binden.
Liederlichkeit des Seins
Sprachverwirrung
Am Anfang ist immer die Überraschung: man kann es nicht fassen: Ja, man hat es tatsächlich geschafft, den Job gekündigt. Man hat den Weg zum Flughafen gefunden, man hat sich ein Ticket gekauft und sitzt in einem Flieger Richtung Marokko. Ein Irrsinn! Und auf dem Flughafen ist man bereits Einheimischer geworden, wenn man es nicht schon vorher war. Schließlich hatte man sich als langjähriger Urlauber, zumindest aber durch das Fernsehen und/oder das Internet eingehend mit der fremden Kultur auseinandergesetzt, über Google Earth die Topographie erkundet und einen regen Mailverkehr mit einigen Ex-Touristen unterhalten.
Das Einzige, was erschwerend hinzukommt und durchaus des Öfteren zu konsterniertem Kopfschütteln führt, ist die leise Immigrantenfeindlichkeit, von der sich sogar Urlaubsnationen nicht freisprechen können. Sie kristallisiert sich beeindruckend durch die fremdartige Sprache heraus. Sicher, wenn man nach Indochina oder Rhodesien auswanderte, hätte man Verständnis dafür, aber nicht doch in Frankreich oder Italien! Abseits der scharf begrenzten beurlaubten Regionen scheinen die Einheimischen tatsächlich nicht in der Lage zu sein, wenigstens fließend englisch, geschweige denn deutsch zu sprechen. Offensichtlich hat die Regierung des Traumlandes noch keine einzige Münze in Sprachkurse der Inländer für die Kommunikation in Immigrantensprachen investiert. Vorteil: Das familiäre Wir-Gefühl wird gestärkt.
Abgesehen von den besonders dreisten Fällen von Inländertum. Man kennt das von Restaurants im Hinterland der Côte d’Azur, von kretischen Tavernas oder auch Pubs auf den britischen Inseln, dass die Kellner aus bloßem Nationalismus, ja Elitarismus zwar alle perfekt deutsch zu sprechen in der Lage sind, es aber einfach nicht tun.
Wenn die Stimmung durch Misserfolge getrübt sein sollte, stören Sprachbarrieren am wenigsten. Mimik versteht jeder. Jeder weiß, wie Trauriges richtig betont wird. Für das Zuhören hat sich ein Ausdruck gleichförmigen feierlichen Ernstes mit nicht zu hektischem Augenaufschlag bewährt. Dabei bedenkt man nicht, dass der andere sein schauspielerisches Talent gar nicht einzusetzen braucht, dem Fremdling Anteilnahme vorzutäuschen. Es kommt auf das Gefühl des Verstandenwerdens an. Und das kommt automatisch, wenn vom Anderen keine Widerworte kommen. Es tut gut, in mitleidigen Gesichtern zu lesen. Man steckt die Köpfe zusammen, trinkt improvisierten Kaffee zusammen und lässt sich die Schulter tätscheln. "Das wird schon wieder und morgen ist auch noch ein Tag" lässt die Sendung immer wieder durchblicken.
Der Traum von der Selbständigkeit
Man ist realistisch genug, zu erkennen, dass das Leben nicht nur aus Arbeit bestehen muss. "Es ist Zeit für ein neues Leben" hört man ein gebetartiges Murmeln, das aus jeder Pore wabert. Zunächst wird der Inhalt des geplünderten Gehaltskontos in Höhe von 2000 Euro zur neuen Existenzgründung benötigt: Kitesurfen im Mittelmeer, Shoppen im Basar, Sightseeing in der Kasbah und Teeschlürfen in der Altstadt. Wahlweise ähnliche Tätigkeiten im Norden: Fotografieren von Eisbären, Tätscheln von Eskimokindern, Kanujagd auf Zwergwale und Stricken mit Pelz-Omis. Es ist überall das gleiche. Man hat zwar noch keine Arbeitsstelle, aber die kommt schon. Und wenn man nicht schon jetzt einen todsicheren Generalplan in der Hinterhand hat, kommuniziert man strahlend in radebrechendem Englisch mit Inländern. Denn man hat ja schon gehört, das wo wer gebraucht wird/werden könnte.
Die Augen haben die Farbe des Meeres angenommen, wenn man ins nächste Geschäft eskortiert wird: Die Kommunikation funktioniert - grundsätzlich! Und wenn man nicht gestorben ist, dann hofft man noch heute. Und wenn der Arbeitgeber bisher nicht an die Tür des gutbürgerlichen Hotels geklopft hat, macht man sich einfach selbständig. Die Liste der Alternativen ist so groß wie die ganze Welt: ein Bikercafe in Portugal, deutsches Brot auf Mallorca(!!), ein gepachteter Fischteich in Dänemark, Straßenmalen in Paraguay und Anschaffen in Helsinki.
"Das hat in Deutschland zwar nicht geklappt, aber eben nur, weil ichs nicht probiert hatte..."! Man wirft die letzte Kugel in das letzte freie Fach der Revolvertrommel, um endlich die letzten Reste des gepflegten perfiden Sicherheitsdenkens auf die letzte Reise zu schicken. Und jetzt erst recht und dann aber auch richtig! Als Neo-Hippie, fernab von Notgroschen und Kommunalobligationen, von schleimischen Emails an den Chef, als Freiheitsstatue in eigener Sache wird man nur noch von der Sonne und der Angst vor exotischen Krankheiten überstrahlt. Freilich musste man in der alten Heimat kein Wasser abkochen und es gab mehr Steckdosen in der Küche, aber Unabhängigkeit ist mit Geld nicht zu bezahlen - wenn man praktisch pleite ist.
Der andere Teil dieser Spezies, die den leise gefühlten Parasitenstatus am Anfang der neuen Karriere überwunden hat, geht mit viel mehr Methode ans Werk. Überall am Traumort braucht man nur die Augen auf zu machen. Dann laufen einem die vielen glücklichen Helfer, die von ihrem Schicksal als Mutter Theresa noch nichts wissen in die Arme. Nachbarn, Kollegen bei McDonalds, Pensionswirte, Schüler, Verkäufer und Pferdeverleiher. Dolmetscher kosten so fast gar kein Geld und werden einen immer gern überall hin begleiten. Zufällig ist "er" auch Taxifahrer oder kennt zumindest welche, die die Stellen kennen, die man kennen muss, um als Einheimischer eine Gewerbelizenz zu bekommen. Er hat Bekannte, die diese Formulare ausfüllen können und sicher objektive Tipps für den besten Standort haben: in den Randbezirken, weit weg von ruinöser Konkurrenz! Wer soll es denn sonst wissen. Beruhigt stellt man fest: Planbar war das alles nicht! Unvorstellbar, wenn man den jetzt nicht getroffen hätte, aber es ist ja gut gegangen!
Man gewahrt, dass die Division der Restsumme durch die verbliebenen Lebenstage auch hier das gleiche Ergebnis bringt. Bis zum ersten Auftrag muss man sich vielleicht etwas einschränken, aber diesen Preis zahlt man gern.
Vom Immigranten zum Migranten
Diese kleine Industrie für sich und seinen Willen, sich zurechtzufinden, funktioniert sehr gut. Man kann einheimische Gerichte kochen. Man kennt schon mehr Redewendungen, als man je in der Schule gelernt hat. Weil es völlig unvorstellbar geworden ist, zurückzugehen, kann man das Tabuwort "Rückkehr" ohne Gefühlsduselei aussprechen. Mit den Alditüten vom letzten Einkauf auf dem Rücksitz kümmert man sich mit immer mehr Pathos um die Zukunft. Man hat keine Gewissensbisse mehr, finanzielle gegen ideelle Werte auszutauschen: Stunden, in denen man sich um die Existenz aktiv gekümmert hat, Tipps, Hinweise zum Geldverdienen jedweder Art, auch schon Tage, an denen man bereits vor acht aufgestanden war, werden aufaddiert und auf die Erfolgsbilanz gebucht.
Von wegen rosa Sonnenbrille:
- durch die gerade bezogene üble Absteige wird man nur noch willensstärker (hatten die von VOX das gefilmt, als ich aus Rache die Hotelhandtücher klaute?)
- die angemietete Betriebsstätte zum Verkauf/zur Vermietung von <<Beliebiges bitte einsetzen>> - eine spontane/schon seit langem verfolgte Idee! - wird man Zug um Zug selbst renovieren und
- innerhalb dreißig Tagen so viel Arabisch/Türkisch/Norwegisch/Spanisch/Französisch sprechen, dass man wie ein Ziegenhirt auf dem Markt über Preise verhandeln können wird, ohne auf einen Taxifahrer angewiesen zu sein! Die Athener können ihre Eulen dann behalten!
Angstfrühstück
Es gibt gar keine wahre Selbständigkeit: als Unternehmer ist man von einer noch viel größeren Gruppe von Menschen abhängig, den Kunden. Freilich hält sich die Abhängigkeit noch in Grenzen, denn die wollen trotz des unwiderstehlichen Plans nicht in Scharen kommen.
- Schuheputzen in der Altstadt Quitos
- Tauchgänge für Urlauber am Roten Meer
- Exotische Gewürze auf dem Wochenmarkt Kairos
- Schlankheitspillen für Unterernährte in Schwarzafrika anbieten, damit das Hungergefühl unterdrückt wird, wer kommt schon darauf?
Richtig, NIEMAND! Dabei war alles so großzügig geplant. Als Zeitfenster hatte man einen Zeitraum von vier Wochen veranschlagt, ab der der Laden läuft, konnte sich acht Wochen Misserfolg leisten und hat schon zwölf Wochen durchgehalten.
Die letzten kleinen Strandcafebesuche werden gestrichen. Ausnahme: man hat ein eigenes Restaurant, das nicht läuft. Dann kann man die Reste von der Eröffnungsparty trinken. Endlich hat man einen Aushilfsjob in einer Ferienanlage gefunden, um den großen Traum (weiter) zu finanzieren und um banale Alltagssorgen los zu werden. Der Ehepartner ist auch noch da, scheint allerdings etwas unterfordert zu sein. Die Kinder sind schließlich mit dem Finden neuer Freunde, dem Erlernen der Sprache und der Suche nach der Schulklasse beschäftigt. Damit erübrigt sich auch das schlechte Gewissen im Hinblick auf die Erziehung, um sich nun ganz der Existenzerhaltung widmen zu können. Vier Stunden Schlaf reichen völlig aus - für beide. Es wird alles zusammengeschmissen. Widerwillig halbverschleiert muss sie in Vorstellungsgesprächen feststellen, dass die Nation mit der Emanzipation der Frau noch in den Kinderschuhen steckt. Er hat auch schon bessere Jobs angeboten bekommen - aber - nur nicht meckern! "Finisher" beim Ziegelsteinbacken, 12 Stunden lang in gebückter Haltung - warum eigentlich nicht? Geteiltes doppeltes Leid ist einfaches Leid für den Einzelnen! So einfach ist das! Niemals hätte sie in Deutschland für solch einen Hungerlohn in der Küche gearbeitet - warum eigentlich? Ach ja. Vor 12-Stunden-Tagen sieht man sich zum Frühstück, während dessen man von den kleinen Erfolgen des Tages berichtet: wieder ein paar Vokabeln gelernt, wieder was von der großen möglichen Chance und überhaupt wieder was vom anderen gehört. Dann sitzt man schweigend da und beißt in altbackene Brote. Nur noch ein paar letzten Minuten vor dem Dienst am Kunden! Man legt man ein paar Münzen für den geplanten Einkauf zusammen. Wir müssen irgendwie noch eingekauft kriegen! Dankbar liegt man irgendwann später halbtot in den Betten und hat Zeit, gemeinsam zu träumen. Wie zu Hause, nur war es nicht ganz so stressig! Selbständigkeit eben!
Eulen nach Athen, Rückflug inklusive!
Unvermittelt wird auch der hartgesottene und -gebliebene Nichtwiederheimkehrer, der seit drei Jahren unter Brücken schläft, nichts anderes behaupten. Schließlich ist man ja gerade erst angekommen. Schließlich ist es ja eine Ferieninsel, auf der man nicht urlaubt. Diese exotische Wärme hat den unwiderstehlichen Touch von Professionalität und bietet bei kritischen Nachfragen immer umgehend im Zirkelschluss die Rechtfertigung: man wird sich doch mal ausruhen dürfen! Man bleibt in dieser Aufbruch-Physiognomie frei wie ein schockgefrorener Fisch gefangen.
Als dankbares Opfer der Gezeiten des Lebens ist man keine gestrandete Existenz, sondern der Hauptdarsteller eines Perpetuum Mobiles aus generierter Selbstreferenzialität psychiatrischer Tiefe. Man redet im Zeitablauf kaum noch über die Erfolglosigkeit, aber nicht, weil die Argumente fehlen oder Erfolge umdefiniert wurden, sondern weil sie nicht wichtig ist. Egal, ob man sich nur mangelhaft vorbereitet hat, den Hintern nicht vor zwölf aus dem Bett bekommt, die Sprache nicht beherrscht oder die Ideen scheiße sind. Die Niederlage wird zum notwendigen Übel, denn ohne sie könnte man doch niemals erfolgreich werden! Es ist kein Husarenritt zum Glück nötig. Man muss nur konsequent und mutig warten, denn andere hätten ja schon längst aufgegeben!!
- "Morgen, morgen ...
- "...krieg ich einen Job"
- "...kommt meine Chance (ich bin ja schon da!)"
- "...kommt das Blitzgiro"
Alles kein Problem, "es läuft schon" nickt man sich zu. Man muss sich eben nur noch zurechtfinden. Auch wenn man die Abläufe in der Organisation der städtischen Abfallentsorgung besser kennenlernt, als einem zunächst lieb ist. Man wäscht sich das Hemd am nahen Strand und hat das Herz voller Ideen. Hier kann man viel billiger leben, das macht das Warten leichter. Mit anderen Worten dreht es sich also um Geschichten, die das Leben und die Konsequenz des Fluchtgedankens bis zur Gehirnerweichung mit einem Überfluss des Faktors Zeit für Postkarten schreibt - wenn vielleicht doch noch etwas Kleingeld für das Porto vom freundlichen Restaurantbesitzer gestiftet wird. Gottseidank gibts ja noch die Videotagebücher von Vox - die kann man sich überall später noch angucken. Eine Antwort ist dem Fachjournalisten immer sicher, wenn es nach fünf Jahren darum geht, in einem Interview zu klären, "was Familie X noch so macht". Auch bei den unbequemsten Vergleichen zwischen dem Früher und dem Jetzt, zwischen Plan und Ist, zwischen der Decke und dem herunterhängenden Hering in der trostlosen Hazienda am Arsch der Welt wird sich der abenteuerlustige Familienvater schützend vor seine Familie stellen und ins Mikro zischen: "DAS haben wir uns alles selbst erarbeitet!"
Beziehungsflucht
Einen Sonderstatus nehmen die sogenannten Beziehungsflüchtigen ein. Der Begriff ist etwas irreführend, weil man nicht etwa vor der Beziehung flüchtet, sondern vor den Umständen, die man für die Qualität der Beziehung verantwortlich macht. Oder anders ausgedrückt, man flüchtet gemeinsam vor der gemeinsamen Beziehung, so dass man im Ergebnis doch nicht allein bleibt: es ist der Job, es sind die Schwiegereltern, es sind die langweiligen Freunde. Man hat in seiner verzweifelten Bequemlichkeit nicht den Mut zu einer Trennung gefunden, ignoriert Schwangerschaftsstreifen, Falten, Übergewicht, herausgewachsene Blondierungen und auseinandergewachsene Interessen. Ja, in einem Rundumschlag brutalsten Euphemismus - aus Rücksicht vor dem Partner - macht man das gesamte Volk, die politischen Rahmenbedingungen und auch das launische Klima dafür verantwortlich, dass man sich nur noch streitet und nichts mehr zusammenzupassen scheint. Man will voneinander wegrennen und bleibt doch zusammen, sucht beidseitig egoistisch in der jetzigen zwanghaft empfundenen Zweisamkeit Motivation in Vergangenem und wird in schwelgenden Erinnerungen fündig, als man vor 25 Jahren frisch verliebt im Tretboot den Lago Maggiore herauf- und herunterpaddelte, wenn man sich nicht gerade befummelte.
Jetzt will man alles besser machen, als damals gleich so jung Eltern zu werden, mit abgebrochenem Studium und schlecht bezahltem Job und auf Pump in ein hässliches Reihenhaus einzuziehen. Das konnte doch auch nicht gut gehen! Das in dieser Sendung gezeigte Schicksal und der dagegen aufbegehrende Anspruch, alles zur Rettung der Beziehung zu tun, können sich nicht des Vorwurfs erwehren, diametral dazu von besonderer Emotionslosigkeit beseelt zu sein. Man schmiedet mit kühlem Kopf und kaltem Herzen akribisch Pläne, um unter prangender Sonne sicher sein zu können, sich im Ergebnis bald wieder lieben zu können. Aus diesem Grunde mögen solche Versuche auch besonders nach dem äußeren Anschein erfolgreich sein, weil man inständig alles bis ins letzte Detail geplant zu haben scheint.
Das Geheimnis, das man enthusiastisch entdeckt, ist, nicht vorhandene Liebe mit dem Arbeitsdruck für eine gemeinsame Eventualität ersetzen zu können und nicht mehr leiden zu müssen. Die Befristung erkennt man nicht und die Alibifunktion erst recht nicht. Man lernt die Sprache im Fernstudium mit Abschluss, bereist in regelmäßigen Abständen im Rahmen von Abenteuerurlauben das fremde Land, um zu erfahren, wie die Lebensumstände dort wirklich sind. Und die Kamera ist immer dabei. Man besucht die Müllhalden vor der Stadt, unterhält sich mit Straßenkindern, schließt Freundschaften mit Menschen am Rande der Wüste, die bisher kaum Weiße gesehen haben und spendiert großzügig Gelder in den Neubau von Behausungen nach Naturkatastrophen. Als Sachkundige findet man schließlich - nachdem bereits lukrative Arbeitsverträge unterschrieben wurden, respektive ein Geschäft erfolgreich von der Heimat aus geleitet wurde, ein todschickes Haus zum günstigen Preis und lädt verheißungsvoll den verhassten Verwandten- und alten Bekanntenkreis, der alles nur noch schlimmer gemacht hatte, verlogen zum Abschiedsfest ins bereits verkaufte Haus ein - gleich vor dem Morgen der Abreise - und sitzt im Smalltalk auf gepackten Koffern.
Nach einigen herausgequetschten Tränen winkt man dem harten Kern von der Gangway aus zu, als winkte man den Problemen zu, die man verlassen will. Doch die reisen mit. Der anfängliche Stress ist wie alter Lack abgefallen und schon im Flieger nimmt die unheilvolle Mechanik von fehlendem Verständnis, von Verbrauchtheit und Verblühtheit in all ihrer Routine ihren Lauf. Man streitet sich, ob man an alles gedacht hat, streitet sich, ob die Möbel rechtzeitig kommen werden, streitet sich, bis man viel schneller als erwartet den Flughafen erreicht hat, streitet sich, ob man nun die günstigste Bank für das neue Konto erwählt hatte. Aber natürlich sind die Möbel schon da! Man nimmt schnell den Alltag auf sich. Man arbeitet wieder bis die Schwarte kracht, sorgfältig macht man seine getrennten Betten und geht separat aus. Vielleicht muss die neue Umgebung noch wirken. Vielleicht muss man sich noch zurechtfinden. Doch im Streit um Nichts stellt man verblüfft wie ein Kind während eines Taschenspielertricks fest, dass man sich selbst betrogen hat. Gemeinsam überlegen sie sich schließlich, wo sie sich scheiden lassen sollen, konsequenterweise ja auch im neuen Land. Man kann ja Freund bleiben, spätestens dann, wenn man dreitausend Kilometer voneinander getrennt ist. "Wir bleiben in Kontakt", schwört man sich zu, bevor der eine wieder in Richtung Deutschland fliegt.
Weitere Beteiligte
Neben den willfährigen Märtyrern für den Glauben an die eigene Sache und den hilfsbereiten Statisten, die als Einheimische immer gut für ein Schnäpschen oder heißen Kaffee sind, bietet das Script, dass die Realität schreibt, kaum Raum für weitere Personen. Als Schnittmenge zwischen Aus- und Inländern, die "dort" neu erfolgreich sind, aber "hier" ihr Gesicht bewahrt haben, wären sie grundsätzlich reichlich uninteressant. Es ist ja kein Heulen und Zähneklappern zu erwarten, keine nervenzerreibende Rückkehr bei Nacht und Nebel und keine blamablen Wiedereingliederungsparties, deren Veranstalter die gleiche Miene zeigen, wie die Hauptzielgruppe der Sendung: "Ich habs euch ja gleich gesagt!!". Einzig eine Nische verbleibt. Die des Besserwissenden, der das Wort für alle Zweifler übernimmt und als einziger Vorort den Hurrablöden helfen könnte. Er tut es natürlich nicht und das ist auch nicht vorgesehen. Leute wie Würstchen-Manni, der mit Imbissbuden auf Marbella ein Millionenvermögen gemacht hat. "Na also, es geht ja doch!" mag so mancher unvermittelt ausrufen!! Der muss es ja wissen! So wird nach einem kurzen Rundumschwenk über seine Prachtvilla selbiger mit der Emotionsbegabung eines Kriminalbeamten zu Monologen hingerissen, die sich zwar an bestimmte Auswanderer wenden:
- "Arbeit, Arbeit, Arbeit!"
- "Was wollen die denn mit 2000 Euro hier?"
- "Von nichts kommt nichts"
- Wie? Nur 30 qm Ladenfläche? Tapeten verkaufen in Spanien? Nicht in der City?"
Würstchen-Manni ist aber ein Mann der mit beiden Beinen auf dem Boden steht ("Liebe übers Internet funktioniert net"), dessen Ratschläge ohne Weiteres auf alle anderen Auswanderer auch übertragbar sind. Erfolgreiche Geschäftskonzepte sind immer und überall umsetzbar! Verhaltensmaßregeln wie "arbeiten, bis die Schwarte kracht" oder Ratschläge, mehr als 2000 Euro Aussteuer mitzunehmen, bleiben allerdings nur Versatzstücke. Für das Leben übersetzt: nur wer erfolgreich eine Würstchenbude in Marbella eröffnet, der wird auch als Farmer im argentinischen Hinterland oder als Perlentaucher in der Karibik erfolgreich sein. Die Angefixten unter den Anvisierten sind so schlau wie zuvor, überfordert, aber umso faszinierter, es Manni gleich zu tun. So schafft sich die Sendung ihr eigenes Zuwanderungspotenzial.
Resümee
Niemand hat behauptet, dass es einfach werden wird: und VOX am wenigsten. Im Zweifel ist da immer noch die Option frei, an der - allerdings erst später ins Leben gerufenen - Sendung "Die Rückkehrer" teilzunehmen. Egal. Die Uhr tickt, die Zeit läuft für den Auswanderer. Jede Minute bringt ihn wieder ein Stück weiter weg von den ungeliebten Wurzeln, egal wie und bestärkt ihn, einfach "weiter zu machen". Was zu Hause wie Mitleid aussieht, entpuppt sich in der neuen Heimat als Neid. Übertragungsfehler halt.
Hervorragende Beispiele
Wie Legenden entstehen
Der Hamburger Spargeltarzan Konny Reimann, von dem man nie genau weiß, ob er gerade Hamburger Slang oder schon englisch spricht, ist in jeder Hinsicht ein Auswanderer-Phänomen und einer der wenigen Glücksfälle der Sendung. Auch wenn man ihn schlecht verstehen sollte, fällt dies nicht negativ ins Gewicht, da er vor allem ein Mann der Tat ist: ständig sieht man ihn in seinem Domizil am Moss Lake in Texas werkeln. Er macht Dinge, die sonst keiner tut: Türme aus Holz in der Tornado-Alley bauen, ohne Helm einen Stier reiten und mit über 50 eine neue Existenz aufbauen, wo doch die alte gesichert schien.
Wo aber sonst entweder eine bevorstehende Fremd-Schwangerschaft oder eine ebenfalls in die Hose gegangene Geschichte mit einem Haftbefehl als Fluchtgrund eruiert werden müsste, hat auch der reine, norddeutsch- blauäugige Schwachsinn keine Lebensberechtigung als Erklärungsgrund: Konny wars einfach leid, Klimaanlagen zu reparieren! Das versteht man gleich, viele andere, ja Zehntausende wären es auch leid, allein bei dem Gedanken, so etwas reparieren zu müssen. Irgendwann hat man die Schnauze voll! Und das Waldgrundstück war zu klein! Und so kehrte er mit seinen possierlichen Familienmitgliedern inkl. treudoofen Weibchens der Hansestadt den Rücken zu. Und die Kamera war immer dabei.
Wie Legenden weiterleben
Die Doku zeigt, dass es vor allem ein Lebenselixier für Legenden gibt: Man muss einfach bereit sein, alles, wirklich alles zu machen und über sich ergehen zu lassen! Sogar bereit sein, sich für eine schwülstig-sülzige Doku zu prostituieren, die wie keine andere ungeschickter auf den Klaviaturen Fernweh, Bewunderung, Neid und schließlich Schadenfreude zu spielen versteht. Doch der Selbstzweck allein rettet den Normalblöden nur für eine Staffel. Das Geheimrezept des Kochs für den zähen Wunderbrei: Ausdauer und Sturheit! Und dann kommt alles Weitere in Form eines wunderbaren Automatismus dank eines wunderbaren Autismus und sich gegenseitig befruchtender Vorgänge:
- der Darsteller baut sich ein Häuschen oder zwei (egal aus welchem Baustoff, sie müssen nur wenige Wochen für die Außenaufnahmen halten)
- die folgende Staffel wird gedreht
- die Zuschauer wundern sich, dass man nach der ersten Staffel immer noch finanziell besteht
- die "ich habs sowieso gewusst"-Miene in die Kamera halten
- Vortragsreisen zu Themen, wie "wie bau ich mir mein Klo aus Balsaholz" halten und echte Rodeonarben zeigen
- die übrig gebliebenen Häuser bzw. die Grundstücke vermietet man im Zuge des zunehmenden Bekanntheitsgrades immer teurer
- und schließlich geht man in einer "Müller Milchreis"-Werbung auf.
Was sich zunächst nach einer gekonnten Anleitung anhört, der privaten Insolvenz zu entgehen, entpuppt sich als Selbstläufer in der texanischen Wildnis. Die Nachfrage nach Helden des Alltags ist verständlicherweise so groß geworden, dass man im gesamten deutschsprachigen Raum seinen Worten lauscht. Vom dynamischen Duktus der Sendung verführt, möchte man mit feuchten Augen heraus poltern, dass er nun nie mehr arbeiten müsse. Das hat er natürlich nicht mehr nötig. Konny ist diesem Stadium längst entsprungen und zimmert nur noch im Rahmen einer selbst auferlegten Beschäftigungstherapie grinsend um die eigene Mitte herum oder scheucht ängstliche Touristen über das Grundstück des onomatopoetischen Meisterwerks „Konny Island“. Alles macht er in seiner Freizeit, 24 Stunden pro Tag: Hausherr, Vermieter, Gastwirt, Komiker, Koch, Entertainer und last but not least Klimaanlagenbauer. Er hats geschafft: kaum hat er mit verkniffenem Gesicht die Bühne betreten, so hat er gewonnen: Moin, moin ihr Spacken! Se World is mei Kassel!
Katzenbergers kalter Kaffee
Aber nicht nur hamburgische Sturheit zahlt sich im täglichen Kampf ums Überleben aus. Auch das tumbe Reizen ohnehin schon stark strapazierter Bereiche und das Ausnutzen längst bekannter Taktiken, wie die "Feldbusch-Variante" sind für die Quote verheißungsvoll. Es gibt Stellen, auf denen sich weder Wundschorf noch Hornhaut bilden kann; und bei Reizüberflutung ist Angriff die beste Verteidigung gegen die zahlreiche Konkurrenz. Beharrliches Schwimmen mit dem Strom ist das Mittel der Wahl, bis das schwanzdefibrilierte Opfer/der Täter endlich die Fernbedienung weglegt.
Auch die Katzenberger hat mal klein angefangen, von Körbchengröße 80 b bis mittlerweile Doppel-D, um immer unübersehbarer zu werden. Aber ihr Erfolg lässt sich nicht nur auf die einfache Formel "Titten statt Talent" bringen. Auch das Konterfei, dessen Wiedererkennungswert jedem Hetero-Mann greifbar nahe ist, der sich mit der anderen Hand durchs Internet klickt, ist noch nicht entscheidend. Entscheidend für ihren Erfolg ist der Kontrast dieser auf primitive Gelüste ausgelegten Künstlichkeit zu ihrem unverhohlenen Inneren, aus dem tiefster pfälzischer Dialekt herausplärrt. Das ist das Letzte, womit man gerechnet hätte und versetzt den Betrachter in einen Schockzustand heimeliger Rührseligkeit, in dem Dekolleté und Knackarsch erst richtig wirken können. Schnell wird das Landei zum Kuckucksei, das sich rasend schnell im Gehirn auch des Kritischsten entwickelt und nach dem Schlüpfen alles, was irgendwie mit Stil und Qualität zu tun hat, über Bord wirft.
Die Schläuche sind zwar neu, aber der Wein ist alt, momentan 24 Jahre und wahrscheinlich hätte man ein Dixiklo auf Mallorca noch erfolgreich eröffnet bekommen. Die Frau, für die schlimmsten geistigen Grobmotoriker mit der Muschi im Namen, hatte es sich gefallen gelassen, auf der Trauminsel notgeiler Feriensäufer, als Ausgeburt der Innovativität ein Cafe zu eröffnen. Nach den Erfahrungen vieler Gescheiterter greift die Hand zum Kopf, aber letztlich nur um ihn zu stützen, wenn man bei einem Konzept zuschaut, das nicht schief gehen kann.
Geiss iss geil!
Den dramaturgischen Höhepunkt ihres Spannungsbogens erfährt die Sendung, indem das selbst propagierte Leitbild in die Absurdität geführt wird. Wenn es einfach scheißegal ist, ob man sich gut vorbereitet hat, die Sprache beherrscht, einen Job für die Existenzgründung gefunden hat oder wenigstens bereits Kontakt zu wichtigen Leuten "dort" geknüpft hat, betrifft dies nicht nur Harz-IV-Empfänger, sondern auch Superreiche. Und Vox wäre nicht Vox, wenn man es nicht verstünde, beide Läger bis ins letzte alltägliche Detail abzubilden. Vielleicht ist diese Pedanterie aber auch aus der Not heraus geboren worden, denn was Jargon und Motorik anbelangt, sind zunächst nur schwer Unterschiede auszumachen:
"Watt willste denn mit so viel Salz? Biste denn beklopp oder watt?"
"Isch glaubetthacktjetz, Rooooobert...lasset sein"
Vor das Auge des verblüfften Zuschauers treten die Geissens, im Grunde sinnbildlich dafür, dass Geld Kleider, aber keine Leute macht. Erst wenn die Familienyacht, der Bendley oder das schmucke Millioneneigenheim in St. Tropez ins rechte Licht gerückt wird, sieht man beruhigt, dass man es mit Millionären zu tun hat, die die Gewöhnlichkeit meisterhaft parodieren zu verstehen. Dies geht alles gut bis Carmen wie ein Lassoschwinger im Whiskey-Timbre nach den beiden Töchtern ruft: "Davina Shakira und Shania Tyra - kommt jetzt". Und schon ist man wieder in Köln-Ehrenfeld, und schon wieder verzweifelt, dass man zuhause geblieben ist, wo doch das Geld auf der Straße zu liegen scheint.
Literatur
Hätte man es nur vorher gelesen:
- „Zum amerikanischen Schnellrestaurant-Marktführer in drei Jahren“ – Traumfabrik-Verlag, Berlin-Paris-New York-Tokio
- „Erfolgreiches Krisenmanagement im unteren Mittelstand“ - Traumfabrik-Verlag, Hamburg-Köln- München
- „Mit dem Grillfahrrad durch die USA“ - Traumfabrik-Verlag, Aachen-Essen-Hinterwiesendingen