Diverses:Antigone Supertod
Ich hasse mein Leben. Und das meine ich nicht so wie 99,9 Prozent der durchgefilzten Emo-Mainstream-Zöglinge, die sich „lonely“ in Bereiche ritzen, die man selbst als eingesessener Urologe nach Flatrate-Saufen mit David Hasselhoff bis hin zum Verlust der eigenen Identität besser unerforscht lässt, nachdem die Mutter die Vorhängejalousien einen Spalt geöffnet und beim Einfallen des ersten Sonnenstrahls in das sonst finstere Kämmerchen ihren Bengel aufgefordert hat, das Zimmer aufzuräumen. Nein, also ich meine, ich hasse mein Leben wirklich wirklich!
Ist es nicht beinahe traurig und unvorstellbar, dass dieser unbändige, ja fast schon grenzenlose Hass auf mich selbst so groß ist, dass er für mich gar nicht mehr ausreicht? Nun gut, manch anderer würde jetzt behaupten, solche Leute gibt es schon, und zwar die, die mit Turban und Kalaschnikow sowie wachsender Begeisterung in hohe Gebäude brausen oder das neue Auto vom eigentlich ja netten Nachbarn ins nächstgelegene Paradies bomben, weil er beim Grillen von Schweinefleisch den Wind nicht immer exakt mit einberechnet hat.
Aber der Hass auf mich, den ich meine, ist so groß, dass ich alle anderen Menschen gleich ebenso hasse. Alles erscheint so sinnlos, nichts ergibt mehr eine für mich verständliche Logik, und überhaupt: Was ist Leben? Freude? Glück? Liebe?
Bevor ich mich diesen Fragen stelle, die für mich eine Relevanz haben wie Biathlon für Südafrikaner, finde ich lieber eine andere simple Lösung: Ich lasse es einfach!
Was macht man also mit einem Leben, das nicht mehr lebenswert erscheint? Ok, man könnte natürlich mit dem Haartrockner entspannt baden gehen, sich den Ranzen mit Spiritus und Analgetika zumauern oder einfach aus dem Fenster hüpfen, um den Wintergarten des Nachbarn ein wenig farbenfroher zu gestalten. Mir aber reicht das nicht. Es muss größer sein und alles um mich herum zerstören, ein Super-GAU des Suizids sozusagen.
Ich setze mich also postwendend an meinen Laptop, den ich zwischen alten Schulbüchern und Pizzakartons hervorgrabe, und öffne den Internetbrowser. Nachdem ich die zehn Popup-Fenster geschlossen und mich mit der netten Blondine ein bisschen unterhalten habe, die anscheinend nur vier Kilometer entfernt wohnt und gerade total spitz ist, gehe ich auf die Startseite von Google. Ich stocke, markiere mit der Maus sinnlos das Wort „Google“ und überlege, was ich denn eigentlich eingeben wollte. Ich tippe den ersten Begriff: „Suizid“. Sofort schmeißt mir die Maschine Vorschläge wie „Hilfe“ oder „Chat“ raus. „ICH BIN NICHT SUIZIDGEFÄHRDET!“, schreie ich den Bildschirm an. Ich lösche das Wort wieder und tippe „Menschen“ ein. Doch statt wie erhofft Vorschläge für bestimmte Gruppen zu erhalten, bekomme ich langweilige Alltagshelden zu sehen, die ihre Dritten in die Kamera werfen, als seien es ihre Ersten. Ich ergänze „Gruppe“ und bekomme erst einmal weitere Vorschläge zu Fotografien, Arbeitswelt, religiösen Subgemeinschaften oder psychosomatischen Therapiezentren. Erneut schreie ich „ICH BRAUCHE KEINE HILFE!“ dem Monitor entgegen, während ich wutschnaubend „Nukleares Waffenarsenal erwerben“ in die Zeile eingebe. Ich klappe das Notebook zu, stehe vom Schreibtisch wieder auf, trotte über den Teppich zurück, stolpere über die alte Leiche des Zeugen Jehovas, den scheinbar noch immer keiner vermisst, und lege mich wieder ins Bett. Ich starre zur Decke und denke nach. „Eigentlich...“, schwirrt es mir durch den Kopf. „Eigentlich hätte jeder den Tod verdient.“
Supertod
Endlich weiß ich, was ich will. Einen Tod, der alles andere überschattet, der so viele Leute wie möglich mit in den Abgrund reißt - aber auch mich nicht verschont. Einen Abgang, wie es sich der schönste Emo nicht vorstellen kann; wobei mir bei der Gattung eigentlich jede Art des unverbindlichen Sterbens Recht ist.
Ich schnappe mir erst einmal ein Blatt Papier, schiebe die Leiche am Boden Richtung Heizung und lege einige Schulbücher darüber, um von dessen penetranten Geruch nicht in meiner kreativen Phase unterbrochen zu werden. Dann ziehe ich mit meinem Kuli vier große Linien und schreibe folgende Personengruppen ein:
- „Jugend/Freunde“: Brauche ich nicht. Sind unnötig, verbrauchen zu viele zeitliche Ressourcen und können auf Dauer echt anstrengend sein.
- „Frauen“: Kannst du alle in Tonne hauen. Machen Ärger, Schmutz und Lärm, wollen inzwischen nicht einmal mehr die Küche putzen und bei einem falschen Wort landest du gleich vor Gericht, die dir chronisch aktiven, passiven, defensiven und aggressiven Frauenhass vorwerfen.
- „Reiche“: Abgehobene, minderbemittelte, volltrunkene, stets uninteressierte, intolerante, wertlose, unorthodoxe, machthungrige Kamele ohne Sinn und Zweck, dafür aber zu viel Einfluss auf die Gesellschaft. Zudem sind sie sowieso alle nur Betrüger...
- „Alte“: Tickende Zeitbomben, zeitlich wie auch örtlich betrachtet (falls ihr versteht, was ich meine), verstopfen die Kassen in den Supermärkten oder die Rohre in den Toiletten und sind auf Dauer betrachtet echt teuer.
Meine Liste könnte noch weitergehen, aber vor lauter Listen komme ich ja gar nicht mehr zum Morden. Ich stecke mir diese also in eine freie Hosentasche, stolpere auf dem Weg zur Zimmertür noch über Auspuffrohre und Tretminen, komme letztlich aber heil an der Haustüre an. „Ich würde in der Innenstadt beginnen“, denke ich laut vor mich hin, als ich mich auf mein Fahrrad setze.
Mit Schwung und viel Motivation mache ich mich auf, um in der Innenstadt auf nicht mehr lebenswerte Kreaturen zu treffen.
Über Auserwählte und Vergessene
Ein Tag wie jeder andere hier. Überall macht sich diese Pest von Menschen breit, die seit dem 21. Dezember 2012 eigentlich gar nicht mehr existieren dürfen. Die Apokalypse ist wie so ein lästiger Ladebalken, der bei 99 % hängen bleibt, einem aber suggeriert, die Installation sei jeden Moment abgeschlossen, um nur den Bruchteil einer Sekunde später dir mit hämischem Grinsen und nachweislich bitterböser Absicht anzuzeigen, dass sie aus unerklärlichen, ja beinahe schon mysteriösen Gründen doch abbricht. Ich gehe zunächst meine Liste durch und denke mir: „Wo trifft man denn die meisten Jugendlichen?“ Gut, am Abend ist das nicht schwer, da kommen sie dann nämlich erst langsam wieder aus ihren Zimmern gekrochen, nachdem sie in der letzten Nacht blau wie der Enzian mit dem süßen Girly aus dem Transen-Club rumgeknutscht haben, um wieder in denselben Schuppen gehen und „heute wirklich nur ein bisschen zu tanzen“. Ich mache mir gar nicht die Mühe, jeden weiteren Punkt durchzugehen. Stattdessen gehe in den ersten besten Laden und lasse mich von der anwesenden Meute inspirieren.
In einem großen Kaufhaus komme ich vom Eingang zunächst in die Abteilung für Schmuck und sonstigem Bling-Bling. „Prima“, denke ich. „Zwei Fliegen mit einer Klappe. Frauen und Reiche!“ Meine Hoffnung verpufft schnell, als ich die ungeduschte, adipöse Hartz-IV-Mutter entdecke, die mit ihrem sicher nicht einzigen Sohn, der ebenfalls deutlich mehr in der Breite als in der Länge misst, durch die Gänge poltert und mit ihren Fettgriffeln erst einmal jede Kette und jeden Ring anfummelt, dass man meinen könnte, sie hätte echt Interesse. „Die habe ich auf meiner Liste vergessen“, spreche ich leise vor mich hin und gehe weiter. Hass brodelt auf, ich kann ihn kaum noch unter Kontrolle halten, laufe aber weiter. Schon deshalb, weil ich sowieso keine Ahnung habe, wie ich diesen Super-GAU eigentlich durchführen will. Google gab mir diesbezüglich leider so viel Auskunft wie der Kundenservice meines am Flohmarkt erworbenen Computers, dessen Firmenhauptsitz sich in Somalia befindet. Als ich aber gleich einen Stand weiter die nächste RTL-Nachmittagsschauspielerin sehe, platzt mir der Kragen.
Ich geselle mich erst freundlich neben sie: „Guten Tag! Gnädige Frau, kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?“
Die Dame, nennen wir sie einfachheitshalber einmal Cindy, spricht, ohne mich anzugucken: „Nein, brauchischnisch.“ Kurz, prägnant.
Ich: „Suchen Sie denn etwas Bestimmtes? Sagen Sie's ruhig, ich zahl's ja sowieso VOM MEINEM GELD!“
Cindy: „Samma, waschwillsdu? Ick möchte hier ma bidde allene wat für mich kofen, ja? Mein janzet Jeld jeht für die Blagen raus! Ich möchte einmal wat für misch jönnen!“
Sie schaut mir direkt in die Augen. Glaube ich zumindest. Im vom Fett aufgedunsenen Gesicht ist es gar nicht so einfach, die Augen und Pickel in der Schnelle auseinander zu halten. Ich schaue ihr also tief, tief in die von mir vermuteten Augen als sie plötzlich anfängt zu husten. Sie röchelt, hustet und röchelt wieder. „Und Raucher habe ich auf der Liste ebenfalls vergessen“, denke ich mir noch hinzu, als die Quetschwalze plötzlich eine Kette aus der Vorrichtung zieht und sich um den Hals legt. Sie röchelt weiter, zieht an der Kette und fällt zu Boden, dass ich auf einmal Panik bekomme: „Scheiße! Nicht, dass die Frau jetzt... noch mehr Schaden anrichtet.“ Flink wie der Wind haste ich zur am Boden nach Luft ringenden Mozartkugel und rolle sie aus dem Gefahrenbereich, wo sie zunächst einmal nichts mehr kaputt machen kann. Heldenhaft wische ich mir den Schweiß von der Stirn. Inzwischen hat Cindy auch aufgehört wie ein Wackelpudding zu zucken. Ich glaube sie ist tot - oder zumindest nicht mehr am Leben, was ja auf dasselbe hinausläuft. Um sie herum Totenstille (krachaha, versteht ihr? Totenstille... weil... ach, egal). Jedenfalls stehen alle wie paralysiert um sie herum, sagen kein Wort. Manche schauen auch mich an, als hätte ich eben dafür gesorgt, dass sie diesen jämmerlichen Suizid begeht, der sich anpasst an die schauspielerischen Leistungen von Lindsay Lohan.
Ein bisschen verwundert, dennoch zufrieden kehre ich dem Ort den Rücken zu und gehe Richtung Ausgang, da ich davon ausgehen kann, dass hier gleich die Hölle los sein wird.
Plötzlich ein Geschrei hinter mir, und alle rufen: „POLIZEI! EINEN KRANKENWAGEN! SCHNELL!“ Heimlich grinse ich: „Ein Krankenwagen... Viehtransport trifft's eher.“
Ein paar Meter vor dem Ausgang hält mich plötzlich eine Hand fest von hinten: „WAS HAST DU GETAN? DARAN BIST DU DOCH SCHULD!“ Der Mann stinkt. Und dem Geruch nach zu Folge, der sich einordnen lässt zwischen Pommes rot/weiß mit Schuss Eierlikör und Socken vom Sportausflug letzten Sommer, der mir bedauerlicherweise bekannt vor kommt, kann ich mit ziemlich großer Sicherheit sagen, dass er mit der Frau irgendwie etwas zu tun hat. „DU HÄTTEST IHR HELFEN MÜSSEN!“, schreit er mich erneut an. „DU WARST DABEI! DU HAST SIE UMGEBRACHT! DU KOMMST IN DEN KNAST!“
„Beruhig dich mal, du Fettsack. Hättest ja mitmachen können.“ Ich schaue ihm dabei fest in Augen, denn wenn er mich jetzt umbringt, muss ich das schließlich nicht mehr tun. Doch zu meiner Verwunderung blickt er nach oben und sagt: „Du hast ja so Recht!“ Und plötzlich rennt er wie ein angepisstes, pubertierendes Nashorn auf Crack mit voller Geschwindigkeit und Kopf voraus gegen die Wandkante, so dass er leblos zusammenbricht. „Okay“, denke ich mir. „Ok, manche benutzen die Tür oder das Fenster. Aber DAS kann jetzt kein Zufall sein. Einfach zu schön, um wahr zu sein!“ Ich verlasse das Kaufhaus postwendend und gehe in das nächste, um mich dort auf der Toilette zu sammeln. Am Waschbecken lasse ich das kühle Wasser über meine Handgelenke laufen und wisch mir anschließend damit durch das Gesicht. Als ich dann mir im Spiegel in die Augen schaue, kann ich es nicht fassen, was ich dort sehe.
Antigone
„Wer... wer bist du denn?“, frage ich, als ich in mein Spiegelbild sehe und statt eines attraktiven, jungen Kerls eine blasse, alte Frau erblicke.
„Antigone“, lautet ihre Antwort.
„Wer?“
„Ich bin Antigone. Mein Fluch belastet jetzt Eure Seele.“
„Wessen Seele?“
„Na... Eure!“
„Unsere?“
„NEIN! EURE!“
„Sag ich doch... UNSERE!“
„AAAAH! Wie dem auch sei. Ihr habt meine Macht bereits kennengelernt. Ab heute lebt Ihr mit meinem Fluch.“
„Was für ein Fluch denn?“
„Eure Ausstrahlung, Euer Geist, Euer Wille. Spielt alles zusammen, werden sich die Menschen in Eurer Gegenwart selbst töten.“
„Na, das ist doch prima! Und wie genau stelle ich das an?“
Antigone schaut mich an, als hätte ich soeben einen Mord begangen: „Naja... wenn ihr Euch im Griff habt, geschieht nichts. Wenn ihr wollt, werden sich aber die, denen ihr in die Augen seht, umbringen.“
„Iiiis' ja geil! Wie komme ich denn zu der Ehre?“
„Ehm... nun ja... Ihr seid ein bemerkenswerter Junge. Erinnert Ihr Euch an die Leiche in Eurem Zimmer? Sie ist kein Nachfolger des Herrn Gottes, sondern mein Diener gewesen. Nach seinem Tod allerdings ist nun der Fluch auf Euch übergegangen. Nun seid Ihr mein Diener.“
„Nö. Aber danke für den Fluch, ist echt klasse das Ding! Kommt gerade rechtzeitig.“
Mit einem Hops springe ich zur Tür hinaus, um meine neuen Superkräfte gleich auszutesten, während sie mir noch hinterherschreit: „Aber merket Euch: Aus großer Macht folgt große Verantwortung!“ Ich verlasse die Toiletten und sehe auf einmal überall Möglichkeiten, wo vorher Grenzen waren. Auf einer Rolltreppe sehe ich einen Mann, der im Anzug und Zahlenkombinationsaktenkoffer in der Hand mit seinem iPhone gerade telefoniert. Gerade als er an mir vorbeiläuft, rempel ich ihn an und blicke ihm tief in die Augen. Wie ein aufgescheuchtes Huhn wirft er mir sein Handy an die Brust, klettert über das Geländer und springt kopfüber in das untere Stockwerk. Ein Riesengeschrei – und eine Riesensauerei. Aber es funktioniert, herrlich!
Ich muss nur noch einen guten Punkt für das große Finale finden. Inzwischen sollte das aber immer komplizierter werden, im etwa wie die Beziehung zwischen Rihanna und Chris Brown - nur etwas schlagkräftiger. Aber genau das könnte meine große Chance sein...
Ich setze mich auf eine Bank und sehe mir die Leute an. Neben mir diskutieren zwei junge Frauen miteinander.
A: „Und der Typ ging ja mal gaaar nicht!“
B: „Hahaha. Ja, hast du das T-Shirt gesehen? GRÜN! Und das auf einer Geburtstagsfeier. Geht null.“
A: „Und dann labert der natürlich genau mich an! Ich mein, denkt der echt, der könnte bei mir landen?“
B: „Süße, mach dir nichts draus.“
A: „Doch! Weil so etwas finde ich halt scheiße. Mich labern immer nur voll die Langweiler an, die bei Oma noch Kekse kochen und so. Aber so die heißen Typen gehen immer zu Jenny oder Lisa. Boa, würg!“
B: „Sind halt beides voll die Bitches! Da kann jeder mal ran... Bei mir ist das doch genauso. Ich hasse Liebe und den ganzen Scheiß! Ich komme eh besser ohne die ganzen Kerle klar. Mich hat noch nie einer geliebt. Alle Kerle wollten eh immer nur ficken.“
A: „Sind alle gleich!“
Ich muss mir den armen Kerl vorstellen, der, bei den zugegebenermaßen doch gar nicht einmal so schlecht aussehenden Mädchen, sich nach viel Überredungskunst und drei Flaschen Doppelkorn sowie einem gehörigen Druck auf der Blase doch dazu entschieden hat, das Unmögliche herauszufordern und seinen strahlenden Engel anzusprechen - und wie er den Korb kassiert. Ich spüre, wie der Hass in mir wächst, alles zu zerstören. Dieser Hass und diese unendliche Wut in mir kocht. Es ist Zeit, dass ein antigonisches Urteil gesprochen wird.
„Entschuldigung“, unterbreche ich die beiden, „ich setze mich einmal kurz neben euch“. Ohne auf eine Antwort zu warten, quetsche ich mich noch auf die enge Sitzfläche.
„Ehm... Hallo? Geht's noch? Wir haben dir das nicht erlaubt!“, faucht mich eine von der Seite an. „Ich habe ja auch nicht um Erlaubnis gefragt“, antworte ich zynisch und fahre fort. „Wie ich sehe, seid ihr beide ja recht beliebt bei den Kerlen, wenn ich euch richtig verstanden habe.“ Die beiden gucken mich an, als wäre ich ein Serienkiller oder etwas Schlimmeres. Da maunzt mich eine tatsächlich noch an: „Soll das eine Anmache sein, oder was? Hau ab oder wir rufen die Polizei, du Psycho.“ Ich lache kurz. „Oh, da braucht ihr euch gar nicht drum zu kümmern, die kommt gleich von ganz alleine. Viel interessanter wäre doch zu wissen, ob ihr euch schon einmal Gedanken darüber gemacht habt, was nach dem Leben kommt? Wenn ich euch zwei Stupsnasen so angucke, glaube ich, ihr habt keine Ahnung von dem, was ich gerade sage. Aber ich will euch nur eines mitteilen: Ihr kommt in die Hölle!! Und zwar direkt im Zimmer neben Adolf Hitler und Mao Zedong. Und da ihr mit den Namen wahrscheinlich so viel anfangen könnt wie ich mit euren Handtaschen, gebe ich euch einen Tipp: Nein, das sind keine Patienten von Derek Shepherd.“ Noch bevor eine etwas sagen kann, springen beide auf und schreien, als habe ihr letztes Stündchen geschlagen. Ok, hat es auch. Aber wenn die im Bett genauso schreit wie hier, dann wundert es mich nicht, dass nur Kekskocher auf sie aufmerksam werden. Während sich die eine dann letztlich artgerecht mit ihrer viel zu kleinen Handtasche erwürgt, versucht die andere vergebens, mit dem Schlüssel sich die Pulsadern aufzuritzen. Da mir das zu lange dauert, laufe ich mit geballten Fäusten und viel Wut im Bauch weiter.
Finale
Überall nehmen die Menschen ihre Beine in die Hand - oder den Rollator - und sind wegen der ganzen Ereignisse total in Panik. Das ist vergleichbar mit einer Kindergartengruppe, der man gerade erzählt hätte, dass sie Mama und Papa in Wirklichkeit nur hier abgeben, um dann nie mehr wieder zu kommen. Anschließend verlässt man den Raum, macht das Licht aus und überlässt die Kinder ihrem Schicksal.
Inzwischen haben es auch die Rettungskräfte sowie die netten Freunde aus der Nachbarschaft, zu Deutsch Polizei, in das Kaufhaus geschafft. Es sind gleich mehrere, schließlich gab's ja heute nicht nur einen Todesfall. Aber ich habe so eine Idee, das große Finale zu starten...
Wären diese verdammten Schaulustigen nicht, die mir den Weg versperren, ich wäre längst bei einem der Polizisten. Höflich wie ich bin, tippe ich einem betagten, älteren Herrn auf die Schulter, damit er mir Platz macht. Doch statt eines „Oh. Entschuldigung. Natürlich lasse ich dich durch“ höre ich nur ein: „Wir wollen alle etwas sehen!“ Genervt boxe ich ihm seine Dritten aus der Fresse und sorge dafür, dass er die Luft länger anhält als es physiologisch sinnvoll wäre. Der Vorteil an der ganzen Sache ist ja, dass ich gleich die Aufmerksamkeit der versammelten Mannschaft habe. Ist im etwa so als wäre man beim Trauergottesdienst, und gleich zu Beginn der Schweigeminute klingelt das Handy abwechselnd zwischen „Stayin' Alive“ und „Highway To Hell“, man aber nicht an das Telefon gehen möchte, weil das ja unhöflich ist.
Ich kann gar nicht aussprechen „Das hast du davon, Opa!“, da packt mich einer dieser sadistisch angelegten Polizisten und hämmert mich auf den Boden, als hätte ich hier irgendetwas verbrochen. Daneben meint irgend so ein grüner Vollkorn-Öko, dass dringend jemand etwas unternehmen muss, um dem armen, alten Mann zu helfen. Und weil der Landsaurier auf meinem Rücken mich Gott sei Dank so auf den Boden presst, dass ich nicht mit der Nase im Marmor buddle, kann ich auch den grünen Hans neben mir dazu verleiten, seine mehrfach auffüllbare Glasflasche für andere Zwecke zu nutzen. Das bringt den äußerst aufmerksamen Kollegen auf meinem Rücken dazu wie ein angeschossenes Reh aufzuhüpfen, um dem armen Öko sein jämmerliches Leben zu retten. Sowieso sind gerade alle aus dem Häuschen hier. Ohne es zu merken, packt mich allerdings ein anderer Polizist von der Seite und zerrt mich in seinen Dienstwagen. „Rein mit dir! Den Rest klären wir später.“ „Nein“, antworte ich. Der Polizist nickt und setzt sich ans Steuer. Leise flüstere ich ihm zu: „Beende das Finale!“ Der Beamte, der im Übrigen eine sehr ordentliche Leistung abgibt, lässt den Motor an und gibt volle Pulle Gas! Ich höre noch Worte wie „Was macht denn Klaus da?“ und „Jetzt dreht er auch noch durch!“
Der Polizeiwagen fährt mit gefühlter Maximalgeschwindigkeit durch den glasigen Haupteingang. Links kann ich die roten Männchen vom Rettungsdienst erkennen, rechts die graue Zuschauermeute. „In den Gastank drüben fahren!“ Wie wir wissen sind Gastanks die Standardausrüstung am Eingang eines jeden großen Kaufhauses. Und es kommt wie wir es uns alle gewünscht haben...
Der Gastank fliegt mit Hilfe von Benzin und Feuer in die Luft, alles explodiert, überall fliegen Leichenteile, Blut und Essensreste herum. Wie herrlich, einfach herrlich! Ich sehe alles nur im Karussell, da sich unser Auto überschlägt und letztlich auch in die Luft fliegt. Dann... wird es schwarz.
Himmel oder Hölle?
Ein weißes, helles Licht kommt auf mich zu. Ich höre, dass da weit weg eine Stimme ist, die mich ruft. „Licht“, denke ich. „Das kann nicht die Hölle sein.“ Innerlich ärgere ich mich aber, hatte ich doch so viele Fragen, die ich Adolf Hitler, Michael Jackson oder Lady Di hätte stellen können. Doch nun gut, ich finde mich damit ab, dass ich also doch in den Himmel muss und realisiere, dass mir die Stimme echt wahnsinnig bekannt vorkommt. „Er wacht auf!!!“, höre ich jemanden schreien und stelle fest, dass ich wohl doch in der Hölle gelandet bin. Meine Mutter sehe ich nun aus einem Augenwinkel, daneben zwei Ärzte und eine ziemlich heiße Schwester. „Er erwacht aus dem Koma“, bestätigt einer der Ärzte altklug. „Ach was, du Affe“, möchte ich gern sagen, bekomme aber keinen Ton heraus.
Minuten später bin ich immer mehr bei Bewusstsein. Plötzlich meint meine Mutter: „Mensch, wir haben uns alle total viele Sorgen um dich gemacht. Gott sei Dank konnten dir die Rettungskräfte, die anwesend waren, noch das Leben retten. Der kranke Polizist, der das Auto gesteuert hat, kam zum Beispiel nicht mit dem Leben davon.“ Verdammt, ich hätte doch die Rettungskräfte zuerst überfahren sollen. „Das wird wahrscheinlich ein längerer Aufenthalt für dich hier. Deshalb habe ich dir deinen Laptop mitgebracht. War gar nicht leicht zu finden bei deinem Chaos im Zimmer. Ich hab' da jetzt einmal ausnahmsweise aufgeräumt. Aber das war das letzte Mal.“ Aufgeräumt? Mein Zimmer? In mir macht sich merklich ein Frieden breit, den ich in der Art und Weise noch nie gespürt habe. Ein Frieden, der jeden Hass und alle Wut in einem verpuffen lässt. „Du hast mein Zimmer aufgeräumt?“, frage ich noch einmal kritisch nach. Sie nickt nur und meint, sie sei ja jetzt sooo glücklich, dass ich noch am Leben sei. Und um ehrlich zu sein, ich bin es auch!
Epilog
Ich sitze in meinem Bett und starre an die Decke. Nervös wische ich in meinem Smartphone von links nach rechts. Die Nachmittagssonne scheint durch das offene Fenster, draußen zwitschern die Vögel. Ich beiße mir auf die Zunge und öffne das Nachrichtenfenster. Ich nehme allen Mut zusammen, suche den Namen „Stella“ und tippe eine Nachricht...
Kein Smiley.
Ich hasse mein Leben. Und das meine ich nicht so wie 99,9 Prozent der durchgefilzten Emo-Mainstream-Zöglinge, die sich in Bereichen weh tun, die man selbst als pensionierter Michael Myers nach voller Dröhnung Ecstasy und Blutbrüderschaft mit dem Leibhaftigen höchstpersönlich noch unberührt lässt, nachdem man der großen Liebe mit Herzblut und unendlich viel Überzeugungskraft eine herzzerreißende Nachricht geschickt hat, auf die man nur eine erbärmliche Antwort ohne Smiley bekommt. Nein, also ich meine, ich hasse mein Leben wirklich wirklich...