Diverses:24 Stunden Wahrheit
Ich heiße Karl und habe auch einen Nachnamen. Ich bin ca. 26 Jahre alt und werde vielleicht noch ein paar Jahre älter. Jünger leider nicht mehr, was aus rein medizinischer Sicht eigentlich eine Forschung wert wäre. Geschätzt werde ich übrigens immer auf 39, was ich souverän mit: „Glücklicherweise jünger als Sie“ kontere. Danach fühle ich mich ab und zu besser, meistens aber eher doch nicht.
Nun gut, wie mein Leben aussieht, kann man sich später auch selbst ableiten. Um es kurz zu machen, was mir gerne schwerfällt:
Was passiert eigentlich, wenn man 24 Stunden lang nur die Wahrheit spricht?
Mein Leben
Mein Leben ist total spannend. Nein, ernsthaft! Ungefähr so aufregend wie die Tagesschau.
Ich habe dieses 08/15-Leben, vor dem die Eltern immer gewarnt hatten: „Werde bloß nicht so!“ Dabei habe ich eigentlich alles, was glücklich machen sollte:
- Einen Job, der mir mindestens acht Stunden vom wertvollen Tag stiehlt und meistens weitere zwei, die ich weder bezahlt noch auf den Urlaub aufgeschlagen bekomme, weil es am Ende des Jahres plötzlich heißt: „Was? Welche Überstunden?“
- Eine Freundin namens Stella, die mir ständig sagen will, wo ich was und wann ich wie zu handeln habe. Zu allem Überfluss hat sie auch meistens Recht. Falls das nicht so ist, hat sie es trotzdem. Die nach dem Essen unbedingt noch will, dass ich ihr bei Dingen helfe, bei denen sie mich eh korrigiert. Dazu kommt die Beschäftigung mit Tochter und Hund. Ich rechne einfach einmal einen Arbeitstag drauf, sprich acht Stunden...
- Ansonsten habe ich noch eine penetrante Schwiegermutter, die sich jeden Tag dazu bereiterklärt hat, mir zu zeigen, dass sie bedauerlicherweise noch am Leben ist und vor meiner, ich wiederhole, MEINER Haustüre steht und mir ein Kompliment über meinen Bart macht, der sie an die wilden 70er erinnern würde. Ich glaube, dass das ja gar kein Kompliment ist. Ich sage dann immer, dass sich ihre Schambehaarung in den Achseln für ihr Alter doch noch beachtlich gut gehalten habe. Ich glaube, sie weiß, dass das kein Kompliment ist - dabei meine ich das bockernst. Dafür gehen zwei Stunden drauf.
- Abends, wenn ich doch gerne schlafen möchte, fällt meiner Freundin wieder ein, dass es ja noch so viele Dinge zu diskutieren gibt und sie den ganzen Tag ja keine Zeit dafür hatte, weil ich ja entweder immer auf Arbeit sei oder mit dem Hund bzw. der Tochter spiele. Nie hätte ich Zeit für sie... Gott sei Dank hat sie das Talent, beim Reden einzuschlafen. Gerade wenn ich so in den Schlummermodus falle, schreit die kleine Tochter im Nebenzimmer. Noch bevor ich meine Freundin fragen kann, wer jetzt hingeht, bekomme ich ein Kissen in die Fresse mit der Aussage: „ICH GEHE IMMER, JA? DU VERSTEHST NICHT, DASS ICH TOTAL GESTRESST BIN! ICH MACHE DAS IMMER! JETZT KANNST DU DAS AUCH EINMAL MACHEN!“ Abgesehen von der Tatsache, dass sie das letzte Mal im Zimmer war, als sie sich über die Farbe beschwert hat, in der ich es angestrichen habe, bin ich doch eigentlich der, der sich beschweren sollte über zu viel Stress. Aber ich mache es nicht... also, mich beschweren. Weil sonst wecke ich das unheimliche Monster in ihr... da gehe ich lieber ins andere Zimmer. Und weil der Schreihals nicht die Klappe halten will, verbringe ich 98% davon neben ihm und singe Lieder, die ich selbst als Kleinkind peinlich finden würde. Ich rechne dafür insgesamt sechs Stunden.
Zusammen kommen wir nun auf 24 Stunden vom Tag. Das erklärt wohl auch, weshalb ich so unausgeschlafen bin.
Zugegeben, ein totaler Durchschnittstyp. Mein Tagesablauf passt sich auch perfekt daran an. Ich stehe um etwa sechs Uhr in der Frühe auf. Das tue ich sogar gerne, da ich beim Aufwachen meistens meiner Decke beraubt worden bin, sowie am äußersten Rand der Bettkante liege und darüber philosophiere, weshalb ich nicht mit sechs Jahren angefangen habe, peinliche Videos zu drehen, um dadurch im Internet berühmt zu werden... Dann wäre ich jetzt bei Stefan Raab auf der Couch, würde das obligatorische Wasser saufen, was die Promis da immer bekommen und Texte von Plakaten lesen. Oder ich würde in Werbefilmen genüsslich Krombacher Dosenbier siffeln und so dental in die Kamera grinsen, dass man glauben könnte, das Bier sei eigentlich Zahnpasta. Dann ist es meistens schon 6:01 Uhr und ich realisiere, dass ich mit sechs Jahren in einer Welt gelebt habe, die weder Internet kannte noch eine Kamera, die Filme drehen und von Sterblichen gekauft werden konnte. Damals, wo die Kühe noch Vorfahrt hatten, war das Leben halt noch anders - aber im Prinzip auch dasselbe in grün.
Dann ist es schon 6:02 Uhr und ich renne ins Bad, weil ich sonst wieder zu spät zur Arbeit kommen würde.
Auf der Arbeit? Total toll, wenn der Chef in der Nähe ist. Ansonsten nehme ich den Stapel an Mappen, die noch zu bearbeiten sind, und lege sie mir chronologisch geordnet hin, so dass ich entspannt darauf schlummern kann. Da ich um acht Uhr beginne, endet der Mittagsschlaf so um 12 Uhr, bei dem ich begeistert in der Pause erzähle, dass ich die noch auszuarbeitenden Mappen im Schlaf durchgegangen bin. Eigentlich habe ich von grünen Eisbäralien-Babys geträumt, die mit Metal als Hintergrundmusik das iPhone 6 entführt haben. Das fasst die Realität und den Sinn meiner Arbeit aber eigentlich auch ganz gut zusammen. Was ich da mache? Bürokram. Die Bezeichnung meines Jobs ändert sich immer wieder, je nachdem, wer Deutschland grad in Besitz hat. Heute ist es meistens eine Aneinanderkettung von englisches Begriffen, damit auch Lispler ohne Spott ihren Beruf aussprechen können.
Wenn ich am Tag einmal eine Minute Zeit finde, dann kann ich sagen, dass ich ein total ehrlicher Mensch bin - nach außen hin. Im Prinzip lüge ich so oft, dass selbst Münchhausen mit dem Kopf schütteln würde. Was hätte ich erreicht im Leben, wenn ich nur einmal die Wahrheit gesagt hätte? Wenn ich zu meiner Freundin gesagt hätte: „Naja... also... so schön bist du ja jetzt nicht, ne...“
Was habe ich schon zu verlieren? Einen Versuch war's wert. Ich werde einen Tag zu 100% die Wahrheit sagen! Kein einziges Mal werde ich lügen! 24 Stunden! Wie ich mich kontrolliere oder motiviere? Gar nicht. Selbstschwüre sind sehr wirksam. Ich habe mir geschworen, 24 Stunden lang die Wahrheit zu sagen! Ich darf keinen Millimeter davon abweichen...
Der Versuch
Es ist Freitag, sechs Uhr - also noch mitten in der Nacht. Ich erwache natürlich wieder ohne Decke und am Rande des Gefälles. Ich sehe neben mich, meine Freundin schlummert eingekuschelt in zwei Decken zentral im Bett - so breit wie ein Walze mit Stützrädern. Bevor ich noch das Philosophieren anfange, dreht sie sich mit einem Schlag um und fragt: „Bist du wach?“ - „Ja“, antworte ich nüchtern und in der Überzeugung, die Wahrheit gesagt zu haben. Das fühlt sich gut an! „Das funktioniert ja richtig gut“, dachte ich mir. Ich stehe auf, gehe ins Bad und wasche mir durch das Gesicht: „Bis morgen sechs Uhr! Das muss funktionieren!“
Als ich in die Küche gehe, sitzt Stella bereits am Tisch und glänzt nicht gerade im Frühling ihrer Blüte. Anders ausgedrückt: Ich finde mich nach dem Aufstehen ein bisschen schöner... und ich bin im Prinzip potthässlich.
Ich gehe zum Kühlschrank und sehe Steppenläufer (oder wie man sie auf meiner Arbeit nennen würde: Tumbleweed) durch die Fächer hüpfen. Einer nach dem anderen und mein Magen knurrt laut. „Hättest du vielleicht Lust, nach der Arbeit ein bisschen einkaufen zu gehen?“, bedrängelt mich Stella. „Aber nur, wenn du Lust und Zeit hast“, fügt sie noch hinzu. Normalerweise sage ich immer, dass ich total im Zeitstress bin, aber dieses Mal: „Nein, Lust habe ich keine, Zeit aber genügend.“
Damit war mein Tag auch schon verplant. Doch, abgesehen davon, dass ich zum Supermarkt ochsen muss, steht die Wahrheitssache mir ganz gut. Ich denke sogar, dass ich das auf Dauer durchziehen kann.
Schnell bin ich aus dem Haus verschwunden, um nicht in eine gefährliche Situation zu geraten. Auf der Arbeit angekommen, steht gleich mein Chef im Flur und fragt mich: „Guten Morgen, Karl! Ausgeschlafen? Ich sehe schon, Sie sprudeln nur so vor Tatendrang heute.“ Das hieß nichts Gutes. Gar nicht gut, denn das hieß meistens eher, dass ich zusätzliche Arbeit bekomme. Doch ich antworte erstmals nichts.
Mein Chef fährt fort: „Hätten Sie vielleicht Lust, heute die Mappen von Herrn Alberts zu übernehmen? Er fällt aus.“
„Ne, ich habe keine Lust!“
„Aber Sie wollen trotzdem, oder?“
„Ne, ich will auch nicht!“
Mein Chef runzelt etwas die Stirn, denn Absagen ist er von mir nicht gewohnt. Er hakt weiter nach:
„Dann werde ich das einmal akzeptieren. Ich hoffe, Sie haben nicht persönlich etwas gegen mich, oder?“
Bäm! Da war sie, diese erste, kritische Hürde. Denn rein menschlich habe ich nichts gegen ihn, doch was seine Arbeitsmethoden angeht sehr wohl!
Ich denke nach und antworte: „Sie wissen doch, Chef, dass ich Sie respektiere...“
Mit etwas ratlosem Blick verlässt er mich und ich stapfe ins Büro. Mein guter Arbeitskollege Ralf sitzt bereits am Schreibtisch und erwartet mich. Er ist, wie gesagt, ein guter Arbeitskollege, doch befreundet sein mit ihm... das ginge dann doch zu weit. Doch er sieht das scheinbar etwas anders.
„Hi, Kumpel! Du hömma, heute Wochenende! Hast du vielleicht Bock zu meiner Feier zu kommen?“
„Moin, Ralf. Sorry, aber leider habe ich keine Lust!“
„Komm schon, gib dir'n Ruck!“
„Wenn ich das tue, renk ich mir den Rücken aus.“
„Wir arbeiten jetzt schon so lange zusammen und haben noch nie etwas unternommen. Hast du eigentlich überhaupt irgendwann einmal Lust, was zu unternehmen?“
Schon wieder! Gott hat was gegen Ehrlichkeit, so scheint es. Ich bin keine fünf Minuten im Büro und werde schon mit kniffligen Situationen konfrontiert... oder werde ich das immer, nur fällt mir bloß nie auf, weil ich schon konditioniert ausweiche?
Apropos "ausweichen"... Ist Ausweichen eigentlich eine Lüge? Würde ich jetzt sagen „Ich muss jetzt arbeiten“, wäre das eine Lüge? Anders gesehen... es wäre ja die Wahrheit, nur auf die Frage eben nicht die Wahrheit. Aber da ich mir geschworen hatte (scheiß Selbstschwüre), nur die Wahrheit zu sagen, muss ich also auch hier bei meiner Linie bleiben... was hab' ich auch zu verlieren?
„Nein, bisher hatte ich nie Lust. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich das ändert, ist dementsprechend gering.“
Kommentarlos schreibt er am PC weiter und lässt mich in Ruhe. Ich wechsele mich immer ab, eine Minute lang schreib ich am PC, die restlichen 59 Minuten male ich auf Notizzetteln lustige Weihnachtshüte oder Nikolaushäuser. Dann ist Pause!
Im Pausenraum fragt mich mein Chef, wohl wieder versöhnlich: „Na, heute viel abgearbeitet?“
„Nein!“
„Nicht? Was haben Sie denn dann angestellt?“
Ralf mischt sich ein: „Er hat gemalt. Auf den Notizzetteln.“ Das fehlte mir jetzt noch. Das männliche Weiblein beginnt zu zicken, so eine Hetepetete hätte ich am liebsten aus dem Fenster geworfen, mit dem Kopf zuerst. Der Pausenraum hat aber leider keine... ja, so schlimm ist unsere Arbeit!
„Sie haben gemalt??“, fragt mein Chef verdutzt.
„Ja. Es fehlt einfach die Motivation...“
Meinem Chef fallen beinahe die Augen aus dem Kopf, an sich ja ein lustiger Gedanke: „So kenne ich Sie gar nicht. Kommen Sie nach der Arbeit bitte in mein Büro. Malen Sie eigentlich immer während der Arbeit?“
Ralf reißt seinen dämlichen Schnabel wieder auf: „Wenn Sie wüssten...“ Reflexartig drehe ich mich zu ihm: „Halt deine Fresse, du...“ Ich bekomme nicht mehr raus, beherrsche mich kurz und verlasse den Raum.
Der Arbeitstag verläuft ohne weitere Schwierigkeiten, aber auch nur deshalb, weil niemand mehr mit mir sprechen will. Zum Glück! Ich will ja auch nicht mit denen sprechen.
Im Büro des Chefs
Chef (C): „Was ist los mit Ihnen? Ich will Sie nicht bedrängen, Sie müssen mir auch nichts sagen. Aber Sie sind sonst immer sehr kooperativ und freundlich. Ist etwas Schlimmes passiert?“
Ich (I): „Nein. Meiner Familie geht es gut und ich kann nicht sagen, dass etwas Schlimmes vorgefallen ist.“
C: „Sie wirken so abwesend...“
I: „...oder einfach bloß ehrlich.“
C: „So, so. Dann sagen Sie doch einmal: Gibt es etwas, was Sie an der Arbeit stört?“
I: „Ich dachte immer, es gibt nichts Schöneres, als in einem Büro zu arbeiten. Körperlich nicht überfordert und 'mal ehrlich: geistig überfordert ist man hier auch nicht sonderlich. Neue Gesichter werden bald zu guten Freunden und man kann gemeinsam Probleme lösen. Doch in Wahrheit stecke ich hier in einem Sumpf von... na, ich sage 'mal, freundlich aufgesetzten Gesichtern, die sich Arbeitskollegen nennen, doch in Wahrheit alle genau so denken wie ich.“
C: „Das ist natürlich harter Tobak. Damit hätte ich nie gerechnet.“
I: „Weiß ich. Wie denn auch, 99% hier würden niemals die Wahrheit sagen. Ein Deo würde jedem Raum sogar ganz gut tun. Ach ja, unser Pausenraum sieht aus wie eine Zelle aus Guantanamo. Wäre nett, wenn wenigstens Luftlöcher enthalten wären.“
C: „Sie brauchen dringend eine Pause. Sie verschweigen mir etwas. Probleme in der Familie sollten Sie daheim erst einmal klären. Ich gebe Ihnen dafür über das Wochenende Zeit, nochmals nachzudenken. Sollten Sie Ihre Meinung nicht ändern, werden Sie sich besser woanders einen Job suchen, schließlich kann ich nur motivierte Arbeiter gebrauchen. Das Gespräch ist beendet.“
I: „Oha.“
Ich verlasse den Raum und schnaufe einmal tief durch. Abgesehen davon, dass ich wahrscheinlich gerade sowohl meinen Job als auch meine Einkommensgrundlage sowie sämtliche Sympathiepunkte verspielt habe, fühle ich mich gut. Alle angestauten Dinge sind raus. Und ich kam nicht einmal dazu, alles zu sagen... Mir graute trotzdem der Gedanke, jetzt zu meiner Freundin zu gehen.
Im Supermarkt
Ich gehe durch die Abteilungen und suche die Dinge, die auf dem Zettel notiert sind. Emotionslos packe ich diese Sachen in den Korb und fahre damit zur Kasse. Sehr ärgerlich, dass vor mir eine lange Schlange grauhaariger Halbzerfallener ihre prallgefüllten Körbe auspacken, und zwar im selben Tempo wie sie mit ihren 60.000€ grauen Mercedes-Karossen durch die 70er-Zone schüren, nämlicher mit angezogener Handbremse und gefühltem Rückwärtsgang. Darüber hinaus wundert es mich immer wieder, welche Art von Sachen diese Menschen einkaufen. Haarpflegeprodukte, Anti-Aging-Cremes, Karamelbonbons, Alldays-Slipeinlagen, Bravo-Zeitschrift, DVDs und so viel Essen, dass man befürchten muss, die sammeln für das letzte Mahl. Alles Dinge, die sie entweder nicht brauchen, nicht kauen, nicht lesen, nicht sehen oder nicht fühlen können. Dinge, die ich für mein Kleinkind kaufe, kaufen die für ihren Lebensendgefährten bzw. ihre Lebensendgefährtin. Doch sei's drum... die Rente muss ja verpulvert werden. Ich stehe mit meinen fünf Artikeln am Ende der Sahara und warte, dass es voran geht.
Hinter mir steht eine Rentnerin mit voller Tasche. Ich ignoriere sie. Plötzlich ein lauter Seufzer. Ich drehe mich kurz um und sehe, wie sie demonstrativ ihre Tasche auf den Boden stellt. Ich ignoriere sie. Doch sie wird penetranter und meint ganz leise: „Ach Mensch... Aua... Meine Hüüüfte...“... Ich ignoriere sie, habe aber das Bedürfnis, das Regal rechts neben ihr, ihr auf den Rücken zu knallen. Querschnittsgelähmte fühlen abwärts der Hüfte oft nichts mehr, orthopädische Radikalhüft-OP, um Schmerzen zu lindern.
Ein weiter Seufzer wird ausgestoßen, gefolgt von einem Satz: „Man hat's nicht leicht...“
Ich drehe mich um und ernte einen bitterbösen Blick der betagten Dame, die gerade einmal so groß wie der Einkaufswagen ist. Ich ignoriere sie weiter und stelle fest, dass das Rentnerpaar an der Kasse ganz vorn bereits ihr drittes Produkt auf das Laufband gelegt hat. Es geht schneller voran als ich dachte...
„Hach, so spät schon? Aaaaaaaaah, ich schaffe das nicht mehr...“ - Es nervt. Ich drehe mich um: „Jetzt hörn'se mal zu: Ich werde Sie nicht vorlassen, besonders nicht, wenn Sie mit ihrer noch so altmodischen Technik das erreichen wollen. Sie und ihre Hüfte tun mir kein Stück leid. Abgesehen davon, dass ich auch Probleme habe, will ich ganz ehrlich sagen, dass ich Ihre Eile verstehen kann, da Sie wahrscheinlich nicht mehr in der Lage sind, das Wasser halten zu können.“ Da ich meinen dunkelbraunen Haaren in der Reihe quasi als Papagei heraussteche, mache ich mir mit dieser Aussage bloß Feinde.
Vor mir die Dame: „Ich glaube nicht, was sich die Jugend erlaubt!“
Vor mir der Rentner: „Solche haben wir früher erschossen!“
Zwei Reihen vor mir der Renter: „Könnte ich mein Bein noch heben, würde ich dich vermöbeln...“
Zwei Reihen hinter mir ein alter Mann: „Ich hasse dich. Die arme Dame tut mir so leid...“
Drei Reihen neben mir in der Kasse: „Was, was hat er gesagt? Ich höre das so schlecht...“
Einmal von der Tatsache abgesehen, dass ich immer dachte, die seien alle taub, habe ich mich über den Satz mit der Jugend sehr gefreut. Da stehe ich nun, in der Höhle des grauen Löwen und freue mich über die gefühlte halbe Stunde, die ich hier noch stehen werde.
Doch es geht rum, ich komme dran und vor mir das Paar muss nur noch bezahlen. Langsam zählte der Herr seine Münzen durch: „Vier Euro zwanzig... vier Euro fünfundzwanzig, vier Euro siebenundzwanzig... vier Euro und... ähm... dreiunddreißig...“ Mir schwillt der Hals an: „ZWEIUNDDREIßIG! 27 Cent plus 5 Cent sind ZWEIUNDDREIßIG! Das galt schon damals beim Führer! Und außerdem kostet ihr gesamter Einkauf 114,97€... GIB GAS!“ Es tut gut, die Wahrheit zu sagen.
Bei Stella
Daheim angekommen, fällt meiner Freundin ein, dass sie zum Shoppen gehen will... mit MIR! Ich stimme zu und wir sind in der Stadt im ersten Laden. Ich setze mich vor die Umkleidekabinen und tippe in meinem Smartphone sinnlos auf willkürliche Seiten... sogar Werbeanzeigen sind vor mir nicht sicher.
Nicht wundern, ich spule die unwichtigen Dinge vor, denn wir sind in diesem Laden gefühlte drei Stunden. Sie präsentiert mir das erste Outfit: „Ist das schön?“, fragt sie mich mit großen Hundeaugen.
Im Normalfall hätte ich jetzt gesagt „JA!“, um endlich diesen scheiß Ort verlassen zu können. Aber dieser dumme Schwur...
„Nein, Mäuschen... Das sieht schrecklich aus.“ Enttäuscht geht sie in die Kabine zurück und präsentiert postwendend ein neues Outfit...
2. Outfit: „Sorry, da siehst du aus wie ein Marsmännchen... MarsMÄNNCHEN!“
3. Outfit: „Ist DAS dein Ernst?“
4. Outfit: „Dafür mussten Kinder in Indien leiden, damit duuu DAS DA trägst?“
5. Outfit: „Next!“
6. Outfit: „Um ehrlich zu sein... die Socken sind cool.“
7. Outfit: „Und die Hosen trägt man jetzt also so als Oberteil, ja?“
Wutschnaubend rennt sie in Richtung Ausgang. Ich spurte hinterher, ich weiß ja, dass das nicht gerade nett war... aber immerhin ehrlich. Ich renne, will sie nicht verlieren, verfalle in plötzlich Horrorgedanken, schließlich hat sie ja noch die Autoschlüssel...
Am Eingang/Ausgang/"Was auch immer" erwische ich sie. Stella hat Tränen in den Augen. Sie fragt: „Findest du mich überhaupt noch hübsch?“
Zugegeben, ein Volltreffer war sie ja schon damals nicht. Und um ehrlich zu bleiben, muss ich ja sagen, dass sie sich in letzter Zeit schon etwas gehen lässt... das schlägt natürlich schon auf die Attraktivität. Aber wie verpacke ich das nach der Schlappe eben wahrheitsgetreu? Oder soll ich doch hier abbrechen? Scheiß Selbstschwüre...
In sekundenschnelle gehe ich mehrere Möglichkeiten durch.
- Bärchen, dass ist bei deinem Stress doch verständlich.
- Scheiße, geht nicht! Ich finde ja, gerade weil sie kein Stress hat, sollte sie sich ganz gut halten eigentlich.
- Mäuschen, das passiert allen.
- Scheiße, geht auch nicht! Die Freundin von Ralf wird immer schöner...
- Hasi, natürlich finde ich dich noch hübsch.
- Ach kacke... ich will ja ehrlich sein. Und die dämlichen Tiernamen gehen mir auch auf den Sack...
- Also im Verhältnis zu dem, was noch alles passieren könnte mit deinem Aussehen, gibt's echt schlimmeres...
- Technisch einwandfrei, aber auch der Freifahrtsschein zum Singleleben... und schließlich hat sie noch meine Autoschlüssel. Taktisch echt mieser Schachzug von mir!
Da fällt es mir plötzlich ein... Gut, vergessen wir einfach einmal, dass diese Sekunde Pause, die ich für diese Antwort gebraucht habe, eigentlich schon die der Wahrheit am nähsten kommende Antwort war, ist meine Reaktion auf die Frage doch recht geschickt. DIE GEGENFRAGE!
Gekonnt sehe ich ihr in die Augen und frage: „Glaubst du denn, ich fände dich nicht mehr hübsch?“ Wow! Astrein, kann man bei Fragen überhaupt lügen? Ich könnte den ganzen Tag Fragen stellen, damit wäre ich auf der sicheren Seite. Noch während ich mich im Glanze der Deckenbeleuchtung sonne, antwortet sie eiskalt: „Ja, glaube ich!“
Ach, so ein Dreck! Ich könnte kotzen. Und dann fügt sie auch noch hinzu: „Keine Antwort ist auch 'ne Antwort.“
Schnell antworte ich: „Du gibst doch selber zu, dass du ein bisschen zugenommen hast und wieder abnehmen willst!“, verschweige dabei aber, dass sie das schon schaffen würde, wieder abzunehmen oder ich damit kein Problem hätte. Wäre ja gelogen! Und in dem Moment frage ich mich selbst: „Sag' mal, Karl... Hast du dich die ganze Zeit bloß selbst belogen? Du bist ein echt böser Mensch... Ich hasse dich... dich und deine Selbstschwüre.“
Schweigend gehen wir zum Auto. Die Einkaufstour hat sich ja jetzt erledigt.
Wir sitzen auch schweigend in meinem Porsche mit Opel Corsa-Mantel und bestaunen die herrliche Ampelwildnis. An einer dieser Leuchtfackeln fragt Stella wieder: „Wolltest du nur nicht einkaufen gehen oder bin ich dir echt nicht wichtig?“
„Doch! Du bist mir wichtig“, feuer ich ehrlich aus. Denn schließlich wäre ich an schlechter Ernährung längst eingegangen und am Boden verreckt, wenn sie nicht zur Abwechslung eine Suppe von Maggi gekocht hätte. Sie ist somit ein wichtiger Teil meines Überlebens... woran sich wieder erkennen lässt: Ich bin ein unfassbar schlechter Mensch.
Daheim angekommen! Und wer wartet vor der Haustür? Richtig, das Ebenbild meiner Freundin - meine Schwiegermutter: „Na ihr Süßen? Und hallo Karl. Freust du dich, mich zu sehen?“ In diesem Moment würde ich auch gerne wissen, ob Ironie eine Lüge ist, oder nur offensichtliche Wahrheit. Ich lasse die Ironie weg, um mir später keine Vorwürfe machen zu müssen: „Natürlich freue ich mich nicht. Das habe ich noch nie!“ Stella verdreht bloß die Augen. Doch jetzt kommen so Momente, wo ich wieder denke: „Dafür liebe ich sie!“ Mit nur einem Blick schafft sie es, ihrer Mutter zu sagen, dass sie jetzt gehen soll, da sie selbst lieber mit mir zu reden hat. Sie schafft mit einem Blick das, was ich mit 100.000 Worten nicht hinbekommen würde.
Doch statt zu reden, geht sie ins Schlafzimmer und knallt die Tür zu. Ich denke mir, dass ich sie lieber bis morgen darin einsperre und mir dann eine gute Ausrede suche. Dann sind die 24 Stunden ja um.
Sie kommt tatsächlich nicht aus dem Zimmer. Ich versorge Kind und Haustier am Abend und gehe dann um 23 Uhr leise ins Schlafzimmer. Sie schläft. Oder sie tut nur so. Mir egal... Sie gibt Ruhe. Ich schlafe schnell ein.
Plötzlich weckt mich eine Hand... Stella: „Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Stimmt das wirklich, was du mir gesagt hast?“
Samstag... Da muss ich nicht zur Arbeit... und zur Zeit sowieso nicht. Langsam drehe ich mich zum Digitalwecker um... 5:57 Uhr! SCHEIßE!!! Meine Freundin hat ein bekacktes Zeitgefühl! Drei Minuten Nachspielzeit... Drei Minuten lang den Sieg halten. Drei Minuten lang nicht wie die Bayern 1999 gehandelt haben. Drei scheiß Minuten...
Wieder gehe ich innerhalb einer Sekunde wenige Antwortmöglichkeiten durch:
- „Ich würde dich niemals anlügen, Maus!“
- Was für eine unfassbar schlechte Lüge!
- „Du kannst froh sein, dass du immerhin mich abbekommen hast.“
- Zu hart.
- „Das sind Phasen, die wir durchmachen. Die gehen wieder um...“
- Zu kompliziert.
Ich weiche aus: „Ich bin müde!“ Und wieder klopfe ich mir geistig auf die Schulter für eine solch talentierte Aussage. Doch sie setzt sich mit einem Ruck auf und schreit: „Du Arsch! Wieso kannst du nicht ehrlich zu mir sein und sagen, was du von mir hälst?“
Mein Blick weicht auf den Wecker: 5:58 Uhr. FUCK!
Ich kann jetzt zwar so das Übliche runterrasseln, diese ganzen Floskeln von wegen "Ich liebe dich" und "Du bist mir wichtig", aber dann müsste ich auch die ganzen anderen Wahrheiten ausplaudern, wie „Du wirst immer dicker“, „Du stresst mich jeden Tag“, „Du kostet jede Menge Geld“, „Ich habe jeden Tag Angst um mein Auto“ und und und...
„Schatz, können wir so etwas nicht später regeln?“
Sie schnauft einmal durch und sagt: „Ich sehe schon, wohin das führt. Anscheinend bin ich dir echt nicht mehr wichtig. Vielleicht sollten wir erst einmal eine Pause in der Beziehung einlegen.“ - „Nein! Das will ich nicht!“, kann ich ehrlich sagen. Die Uhr springt auf 5:59 Uhr. EINE MINUTE NOCH DURCHHALTEN. DANN DARF ICH ENDLICH WIEDER LÜGEN!
„Verschweigst du mir vielleicht noch mehr? Was muss ich wissen? Sag! Was verschweigst du mir? Findest du 'ne andere schöner?“ Ausgerechnet in der letzten Minute muss ich das wankende Bollwerk aufrecht erhalten, um nicht einzufallen, den Champions League-Titel nicht zu verlieren. Wie bereits gesagt, Ralfs Freundin finde ich teilweise attraktiver und so nebenbei: Ich habe jede Menge zu verschweigen,was selbst in der besten Beziehung nicht ausgeplaudert werden muss. Aber nach meinem Schwur (und nach Uhrzeit) müsste ich all dies sagen... Geistig bettle ich nur so drum, dass diese verdammte Uhr endlich umsetzt... sie tut es nicht. Was, wenn die Uhr stehen geblieben ist? Wenn Gott will, dass ich immer die Wahrheit sage und deshalb die Uhr stehen lässt? Dann gehe ich ins Kloster... wobei, solche Versprechen gingen schon einmal schief...
Stella: „Sag jetzt! JETZT!!“
Ich hole Luft - schau noch einmal auf die Uhr, ob sie auf 6:00 schaltet... sie tut es nicht - und sage: „Ich verschweige dir vieles, Schatz...“ Die Uhr schaltet auf 6:00 Uhr um. Ich hätte diesen scheiß Wecker verprügeln können. Sie dreht sich nach diesem Satz resigniert weg und will aufstehen. Ich kann sie aber festhalten und sagen: „Unsinn, Schatz! Es gibt niemanden, der schöner ist als du!“ Freudig im Gewissen, dass es jetzt 6:00 Uhr ist und ich wieder frei Schnauze lügen kann, um ein besserer Mensch zu sein... Was für ein Paradoxon.
Fazit
Das kann ich in einer Gegenfrage zusammenfassen: Ehrlichkeit währt am längsten?
Ich - für meinen Fall - kann jedenfalls behaupten: Ich habe mit 100% Ehrlichkeit beinahe Freunde, Freundin, Job und Ansehen verloren... innerhalb von nur lächerlichen vierundzwanzig Stunden.