Diverses:Kubanische Erlebnisse
Die Sonne hatte sich schon über die Dächer der Stadt erhoben und brannte unbarmherzig auf deren Straßen und Plätze, doch die Luft trug noch die Frische der Nacht, sodass Kogitor es genoss einmal nicht schwitzen zu müssen und das tat, was Philosophen vermutlich am besten können: Er saß im Sessel und dachte nach, wobei er nicht der Frage nach dem Wesen der Schönheit nachging oder versuchte zu ermessen, was denn Erkenntnis eigentlich sei, sondern eines Missgeschickes gedachte, dass ihm unterlaufen war und als Ergebnis hatte, dass er nun einen Verband tragen musste:
Vor einigen Tagen hatte er bei einem Spaziergang durch die Stadt nur Augen für die Schönheit des ehemaligen Präsidentenpalastes, aber nicht für ein Loch im Boden, das just zu diesem Zeitpunkt seinen Weg kreuzte. Die Verletzung war gering, sodass sich die Krankenschwester weniger um die Wundversorgung sondern mehr um den aufgelösten Europäer kümmern musste, dessen grauer Leinenanzug überraschend gut mit dem Straßenstaub Havannas harmonierte, den er bei seinem Sturz aufgesammelt hatte.
Eine junge Frau riss ihn aus seinen Gedanken:
„Haben Sie einen Peso? Es ist nicht für mich. Ich muss Milchpulver für meine Tochter kaufen. Sie sind ein netter Mann. Sie haben sicherlich ein Herz.“
„Sozialismus oder Tod, meine Liebe.“ „Sozialismus und Tod, das ist die Realität. Aber das versteht ein Fremder nicht.“ „Etwas mehr Vertrauen in die Revolution, sonst leben Sie gefährlich in diesem Land.“
„Bitte, geben Sie mir Geld. Meine Tochter braucht die Milch. Ich bitte Sie. Kaufen Sie welche.“ „Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es mir Leid tut, aber ich verschenke mein Geld nicht.“
Die Frau starrte ihn einige Sekunden an, ging dann schweigend weiter und versuchte es am nächsten Tisch. Für die meisten war es lukrativer in der Stadt zu betteln als am Feld zu arbeiten. Die Plaza Vieja war nahezu menschenleer. Im Schatten der frisch renovierten Kolonialbauten versuchte ein Verkäufer verzweifelt Lose an den Mann zu bringen, vor dem Eingang eines Museums tratschten zwei Frauen und ein Maler hatte neben dem Brunnen seine Staffelei aufgestellt und hielt nun Ausschau nach Touristen, denen er zu überteuerten Preisen mäßige Porträts verkaufen konnte.
Kogitor rief die Kellnerin, zahlte und gab ihr zwei Pesos Trinkgeld, dann stand er auf, klemmte die Zigarre zwischen die Lippen und setzte seinen Panamahut auf. Nachdenklich strich er mit der Hand über sein Kinn, spürte die kurzen Barthaare. Mit seiner Verletzung war jede Rasur eine Gradwanderung zwischen gründlicher Haarentfernung und einem unfreiwilligem Blutbad. Der Philosoph verließ das Café, schritt über den Platz und betrat die Calle Muralla, die zum Kapitol führte.
Zwischen den halbverfallenen Häusern, deren verblichenen Fassaden von der karibischen Sonne, der salzigen Seeluft und dem kommunistischen System langsam zugrunde gerichtet wurden, schlenderten die Menschen auf dem Trottoir, denn die Hitze strafte jede Eile. Sie sprachen miteinander, saßen bei der Eingangstür oder verkauften durch die großen Fenster der Räumlichkeiten im Erdgeschoß belegte Brote oder Pizzen. Auf der staubigen Fahrbahn, deren Löcher notdürftig mit Sand gefüllt worden waren, stand ein Holzkarren, der von einem Esel gezogen wurde und mit Mangos gefüllt war. Hupend bahnte sich ein altes Auto seinen Weg.
Ein junger Mann rief: „Hallo, mein Freund“ und ging auf Kogitor zu, doch dieser bog in die Calle Cuba ab und beeilte sich seiner neuen Bekanntschaft zu entkommen.
In Cuba war es leicht Freunde zu haben, zumindest wenn man wie ein vermögender Europäer aussah. Sie gaben sich kollegial, zeigten sich interessiert und wenn man die Namen und vielleicht noch den Wohnort ausgetauscht hatte, war das Verhältnis so gut, dass einem günstiger Rum, gestohlene Zigarren oder auch Frauen unter der Hand verkauft wurden.
Kogitor aber kaufte seine Zigarren und seinen Rum ordnungsgemäß im Geschäft und auch wenn er sich gegen die Stigmatisierung von Prostitution einsetzte, hatte er kein Interesse an einer flüchtigen Liebschaft auf monetärer Basis, aber nicht weil er es für verwerflich hielt, sondern weil es seinem Wesen als Theoretiker widersprach, sich auf praktische Weise mit einem philosophischen Problem auseinanderzusetzen. Außerdem sah er Sexualität als Privatsache an und da er keine Freundin hatte, wurde sie schon fast zu einem solipsistischen Problem.
Da der Philosoph den Grüßenden zu spät gesehen hatte, musste er den Gruß erwidern, um nicht unhöflich zu wirken und es begann eine Posse, die in Havanna zigmal am Tag aufgeführt wird. Die Inszenierung mag zwar jedes Mal anders sein, doch die Handlung ist immer gleich. Der ältere Herr stellte sich vor, sagte, dass sein Name Juan sei und fragte ob man Interesse an Zigarren oder Rum habe. Simon Kogitor verneinte, um nichts kaufen zu müssen, obwohl er beides schon zum Frühstück konsumiert hatte.
Nachdem man sich etwas abgetastet und Belanglosigkeiten ausgetauscht hatte, wurden die heikleren Fragen gestellt. So bot man dem Philosophen eine Frau für gewisse Stunden an, doch dieser erwiderte:
„Ich habe eine Freundin.“ „Hier oder in Österreich“ „In Österreich“ „Dann haben Sie keine Freundin.“ „Das ist etwas Festes. Ich liebe sie.“ „Das ist kein Hindernis,“ erwiderte Juan und erzählte von einer Begebenheit, bei der er einem jungen, frisch verheirateten Portugiesen Rum, Zigarren und Frauen besorgt hatte.
„Was in Cuba passiert, bleibt in Cuba,“ ergänze Juan mit einem Augenzwinkern. Kogitor lehnte trotzdem dankend ab, hatte er nicht nur kein Interesse, sondern auch keine Freundin, die er hätte betrügen können.
Die beiden trennten sich an der Kreuzung Calle Cuba und Calle Obispo, die eine bekannte Einkaufsstraße in Habana Vieja war und von zahlreichen Touristen frequentiert wurde. In den Geschäften, die sich in den Häuserzeilen entlang des Trottoirs befanden, konnte man verschiedene Mitbringsel wie Rum, Zigarren oder Holzhandwerk kaufen. Mehr als einmal lächelte das Konterfei Ernesto Guevaras von den T-Shirts, die es in den verschiedensten Farben zu erwerben gab. Doch das schlichte Schnellrestaurant oder der unauffällige Imbissstand erinnerten daran, dass Havanna eigentlich den Cubanern gehörte.
Der Philosoph holte ein weißes Taschentuch aus der Tasche seines beigen Leinensakkos, um sich den Schweiß von der Stirn zu tupfen, dann schritt er weiter in Richtung Parque Central. Wieder perlten Schweißtropen und er tupfte sie ab, doch es war ein aussichtsloses Unterfangen. Die Hitze kannte keine Gnade. Sie hatte sich im Anzug eingenistet, war nicht mehr zu vertreiben. Kleine Schweißbäche flossen den Rücken hinab.
Resignierend blieb er an einer Straßenkreuzung im Schatten eines Hauses stehen, gönnte sich Augenblicke der Ruhe und beobachtete eine Gruppe Kinder, die in der Nebenstraße Fußballspielten, in der nichts an das hektischen Treiben in der Calle Obispo erinnerte.
Nach einiger Zeit setzte Kogitor seinen Weg fort und kam schließlich zur Bar „El Floridita“, vor deren Eingangstür eine rote Alfa Romeo Giulietta Spider stand, die er ausgiebig betrachtete, als er von einer jungen Frau mit schwarz gelocktem Haar und dunkelbraunen Augen angesprochen wurde, die eine weiße Bluse trug :
„Benötigen Sie ein Taxi?“ „Nein danke.“
„Ich frage nur, weil sie nämlich meines anschauen.“ „Oh, eigentlich wolle ich einen Mojito in der Bar: „El Floridita“ trinken.“ „Dort sind Sie teuer und schmecken nicht. Glauben Sie mir, ich kenne eine Bar, wo sie für den besten Mojito ihres Lebens nur 2 Pesos zahlen.“
„Kling gut. Gibt es dort auch etwas zu essen?“ „Das Beste in ganz Cuba.“
„Warum nicht? Bringen Sie mich hin,“ antwortete Simon wissend, dass die Fahrerin diese Bar nicht empfahl, weil sie die beste in Havanna sei, sondern weil sie von den Besitzern dafür Geld erhielt. Auch das war eine Posse, die jeden Tag in der Stadt zur Aufführung kam. Aber es war ihm gleich.
Er wollte einmal sein Misstrauen ablegen, nicht hinter jeder Höflichkeit einen Winkelzug erkennen, auch wenn die Wahrheit eine andere war und wann war die Gelegenheit für diesen naiven Luxus günstiger als bei einer hübschen Frau und einem schönen Auto. Der Philosoph nahm seinen Hut ab und stieg ins Auto. Der Motor wurde gestartet und die Fahrt begann, eine Fahrt deren Ziel er nicht kannte.