Spiegelwelten:Hinterwald
Vereinigtes Königreich Hinterwald | |
Wahlspruch: "Schaffen, schaffen, Häuschen bauen, Hund abschaffen, selber bellen." | |
Kontinent | Sibirska |
Amtssprache | Itzerdeutsch |
Hauptstadt | eigentlich Quadratl, jedoch seit dem 08. Dezember 2010 Querquell |
Staatsform | konstitutionelle Monarchie |
Staatsoberhaupt | Halbkönige Mahong III. und Afrodo I. |
Regierungschef | Großkanzler Prof. Dr. Solon Winckelzug (die doppelte Halbkanzlerschaft von Francis-Ford Doppola und Dagophil Ristla wurde am 10. September 1802 aufgehoben) |
Pressedienst | Schlimme Zeiten |
Fläche | inklusive Apark: 1.005.259,84 km² / ohne Apark 1.160,95 km² |
Einwohnerzahl | inklusive Apark: 71.780.000 |
Bevölkerungsdichte | 71,4 Einwohner pro km² |
Währung | 1 Itzer Pfund = 2 Rauthener Schillinge = 4 Hinterwalder Halbgroschen = 8 Quadratler Quartaler = 16 Witwenthaler Pfennige |
Nationalhymne | Choral von Rauthen, meist vorgetragen von den Itzer Tischlerchören |
Nationalfeiertag | Tag der doppelten Freude, am 03. September jeden Jahres |
Internet-TLD | .hi |
Telefonvorwahl | +0815 |
Stadt, Land, Fluss
Die Ignoranz der Kartenzeichner gegenüber Hinterwald mag zum Teil auf die Geografie des Landes zurückgehen, die auch von wohlmeinenden Zeitgenossen als "schwierig" bezeichnet wird. Stark vereinfacht, das heißt im Rahmen einer Lüge für Erwachsene, handelt es sich bei Hinterwald um einen Teil der langgestrechten Insel südlich von Dunkeldeutschland. Es besteht lediglich eine Landgrenze zu Molldurisch Basnana, die sich - beide Seiten schätzen diesen Umstand sehr - mit einem scharfkantig-gezackten Gebirgsmassiv deckt, das auch in alpinistischen Kreisen als unüberwindlich gilt. Die übrigen Landesgrenzen von Hinterwald werden vom Meer gebildet.
Das Vereinigte Königreich Hinterwald besteht aus insgesamt vier Landesteilen, die nahezu deckungsgleich mit den Regionen des Landes sind. Es sind dies Hinterwald im Westen der Insel, Rauthen im südöstlichen und Witwenthal im nordöstlichen Teil. Im Nordosten findet sich die kleine vorgelagerte Insel Itz, die lange Zeit unabhängig war und erst im Laufe des 18. Jahrhunderts Teil des Vereinigten Königreiches wurde.
Die Hauptinsel wird der Länge nach vom Mittelgebirge des Hinterwaldes geteilt, der nach Süden hin immer weiter ansteigt bis zu den eisigen Gipfeln des Doppelkopfgebirges. Dieses bildet zugleich die Grenze zu Molldurisch-Basnana.
Verwaltungsgliederung
Das Vereinigte Königreich Hinterwald ist ein Vievölkerstaat im besten Sinne, genauer: ein Vielstaatenstaat. Derzeit setzt sich Vereinigte Königreich aus sechs Teilstaaten zusammen. Alle sind prinzipiell souverän, werden aber durch das Band der Personalunion und der gemeinsamen Geschichte fester zusammengehalten als sie es wahrhaben wollen. Man benimmt sich eben wie eine Sippe: Man kann sich seine Verwandtschaft nicht aussuchen und findet immer Grund zum Herummeckern, gegen die anderen Clans (was in diesem Falle den Rest der Welt meint) hält man aber zusammen, komme was da wolle.
Ein anderes Verhältnis besteht jedoch zu den Dominions des Vereinigten Königreiches: Diese sind auch praktisch souverän, sind jedoch dennoch sehr eng an das Mutterland gebunden. Auf einer informellen Ebene sind sie ohne jeden Zweifel Teil des Reiches - nur sollte man das in den Dominions nicht laut sagen.
Flagge | Status | Kurzbeschreibung |
---|---|---|
Königreich | Die westliche Hälfte der Hauptinsel ist geprägt von mit inselartigen Mischwäldern durchsetztem, landwirtschaftlich intensiv genutztem Ackerland. Die ausgezeichnete agrarische Nutzbarkeit dieses Landesteils bildet die Basis für die Dominanz Hinterwalds im Vereinigten Königreich. Zugleich finden sich in den Mittelgebirgszügen die ergiebigsten Mampfminen (vgl. Großartige Erfindungen: Die Mampfmaschine), deren Ausbeute den Aufstieg dieser Region im 18. Jahrhundert beschleunigte. Im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwunges wuchsen Städte wie die Hauptstadt Quadratl oder auch Treberan, Eskaliburg und Barmannstadt zu bedeutenden Zentren heran, die auch heute den Schwerpunkt urbanen (und damit auch des kriminellen) Lebens im Vereinigten Königreich bilden. | |
Königreich | Der südöstliche Teil der Insel ist der landschaftlich raueste. Dunkle Bergwälder aus Fichten und Tannen, die vereinzelt mit Hochlandweiden wechseln machen diese Region zum fortwirtschaftlichen Zentrum des Königreiches. Es finden sich jedoch auch Viehzucht und in der Querqueller Ebene auch Ackerbau. Wie in Hinterwald finden sich auch hier ausgedehnte Mampfvorkommen, die jedoch der schlechten und beschwerlichen Wege wegen nicht so intensiv ausgebeutet werden können. Abgesehen von Querquell und Prinz-Mahongbad finden sich kaum urbane Besiedelungen, die über Ansammlungen von zwei Häusern (Dorf; ab drei Häusern: Kleinstadt) hinausgehen. | |
Großherzogtum | In weiten Bereichen ähnelt Witwenthal den beiden anderen Regionen der Hauptinsel sehr. Die großteils noch unerschlossen Wälder stellen eine Art unfreiwillig eingerichteten Nationalpark dar, der vor allem vom Hinterwalder Adel sehr geschätzt wird – nirgendwo sonst kann man noch so ungestört Jagd auf Bären und Wölfe machen, ohne dass im Hintergrund hysterische Umweltschützer ihr Llamento anstimmen (zugegeben: manchmal hört man es doch, aber dann kommt es meist aus dem Inneren eines Wolfs oder Bärs. Raubtiere sind in dieser Sache ziemlich aristokratisch eingestellt; sie respektieren denjenigen am richtigen Ende des Gewehrs, nicht den hinter dem Plakat. Man stelle sich einfach die Gedanken eines Wolfes vor, wenn er jemanden findet, der sich selbst an einen Baum gekettet hat: der Gedanke ist nicht "Oh, da will mich jemand schützen, vielen Dank.", sondern "Oh, eine leckere Mahlzeit, Dankeschön."). Einzig die Stadt Witwenthal am Unterlauf der Schwarzen Witwe (Fluss) versprüht minimalzivilisierten Charme – man sagt, dort habe man es mittlerweile schon geschafft, das Feuer zu zähmen. | |
Gelehrtenrepublik | Das kleine, der Hauptinsel vorgelagerte Eiland Itz ist der jüngste Teil des Vereinigten Königreiches. Gemeinhin wird es mit Attributen wie lieblich, idyllisch und beschaulich versehen, was im Grunde alles Wichtige verrät: Itz ist ein zurückgebliebenes, von der Welt vergessenes Inselchen, dessen einzige Exportgüter hartgesottene Politikern und verschrobene Akademikern sind. Erwähnenswert ist vor allem der Eiserne Otto, der bedeutendste General, Großkanzler und Halbkönig Hinterwalds, der zu Mitte des 17. Jahrhunderts auf einem Rittergut nahe Itz geboren wurde. Ansonsten lässt sich nicht viel zu Itz sagen, und wenn doch: es lohnt die Mühe nicht. |
Flagge | Status | Kurzbeschreibung |
---|---|---|
Dominion (volle Souveränität, jedoch kulturell eng verbunden mit dem Mutterland) |
Seit dem 30. Januar gilt die ehemalige Hauptstadt des Vereinigten Königreichs als unabhängig, wozu nicht unwesentlich beitrug, dass die Stadt samt Großkanzler Solon Winckelzug durch eine Briefbombe im K-Raum verschwand. Nach ihrem Wiederauftauchen stellte sich die Frage, welchen Status die neben Tatorth (Apark) größte Stadt des Vereinigten Königreichs haben sollte. Die Lösung ist eine typisch hinterwaldische: Das Oberhaupt der Stadt soll zugleich der jeweils amtierende Großkanzler des Vereinigten Königreichs sein; um eine Vermischung der jeweiligen Belange zu verhindern, müssen die Amtsgeschäfte an unterschiedlichen Schreibtischen erledigt werden, weswegen im Amtszimmer des Großkanzlers nun stets zwei Schreibtische stehen. Neben Apark ist Quadratl einer der beiden Teilstaaten, die ihre prinzipielle Souveränität auch nach außen tragen. Hier weiterlesen | |
Literarisches Dominion (volle Souveränität, jedoch kulturell eng verbunden mit dem Mutterland) |
Apark ist ein Produkt der literarischen Experimente des Hinterweltprogramms. Apark liegt in einer Parasitendimension des Subtexts, einfacher ausgedrückt: Apark befindet sich im Inneren eines Buchs und wird von literarischen Figuren bewohnt. Von diesen gibt es allein dort 65 Millionen, so dass die Bevölkerung Aparks die des restlichen Vereinigten Königreiches fast um das Zehnfache übersteigt. Zwischen Mutterland und Dominion kommt es immer wieder zu Reibereien, denn wie Quadratl lässt es sich Apark nicht nehmen den prinzipiell souveränen Status auch zu zeigen. Dennoch ist Apark integraler Bestandteil des Vereinigten Königreiches. hier weiterlesen | |
Bevölkerung
Es mag überraschen, aber rein biologisch gesehen handelt es sich bei 99,9 Prozent der Hinterwalder um Menschen – allerdings ist dieser Begriff so dehnbar, dass er fast nichts besagt. Es läuft darauf hinaus, dass im Normalfall zwei Arme und Beine, Kopf, Gesicht und Hintern vorhanden sind (im Fall der 0,1 Prozent der Hinterwalder bedeutet es sogar, dass sie identisch sind).
Entwicklungsgeschichtlich setzen die Hinterwalder den Typus des Neandertalers konsequent als sogenannte Löffelschnitzer fort, und ebnen ihm (dem Neandertaler) so den Weg in die Moderne. Ein beliebter Button in Hinterwald trägt den Schriftzug: Ausgestorben?! Von wegen!. Die Artbezeichnung lautet homo sapiens loeffelschnitzerensis, nicht der tatsächlich sehr beliebten Tätigkeit, sondern des Bio-Systematikers Karl-Aloisis Löffelschnitzers wegen. Auffällig sind der etwas voluminösere Kopf und deutlich betonte Stirnwülste, sonst gleichen sie ihren Sapiens-Sapiens-Brüdern (und -Schwestern) so, wie sich Menschen nun einmal gleichen – soll heißen:
- In Form und Farbe ist alles möglich von Fleischberg bis zum Suppenkasper, vom Schweinchenrosa bis zu Tönung von verkohlten Würstchen.
- In ihrem Wunsch, alles zu besitzen, was sich besitzen lässt, alles zu begatten, was sich begatten lässt und alles zu töten, was sich nicht besitzen oder begatten lässt, sind sie nahezu identisch.
Dennoch handelt es sich bei 99,9 Prozent der Hinterwalder um ziemlich friedfertige Gesellinnen und Gesellen, die geistig eher behäbig sind, die Nationalhymnen für verdächtig halten (besonders die mehrstrophigen) und die allzu große Veränderungen des Alltags nicht mögen. Zu letzteren gehört auch der Krieg: die von ihm hervorgerufenen Veränderungen werden offensichtlich, wenn man zum Beispiel Soldatenfriedhöfe besucht. Ansonsten fällt es auch den Hinterwaldern selbst schwer, allgemeine Aussagen über sich selbst zu treffen, weshalb sie sich wie jede gute Nation ein Gerüst aus kargen Fakten und Zahlen zugelegt haben, um damit durchreisende Soziologen abzuspeisen:
- durchschnittliche Lebenserwartung: 112,81 Jahre; im Gegensatz zu ihren gierigen, aggressiven und hastigen Sapiens-Sapien-Brüdern (und -Schwestern) leben die Hinterwalder ziemlich lange. Sie ähneln hierin Schildkröten – mit allen Konsequenzen.
- Durchschnittsalter: 39,47 Jahre; es ist nur eine Zahl. Sie sagt, dass es mehr junge als alte Hinterwalder gibt. Verständlich – in 112,81 Jahren kann viel passieren.
- Bevölkerungsverteilung Stadt – Land – Wildnis: Verhältnis 1 : 7 : 2
- Religion: unspezifisch; aller Natur- und Heimatverbundenheit zum Trotz empfinden die durchschnittlichen Hinterwalder jeden Mystizismus als Schwindel und jeden Dogmatismus als eine Sache, die von denen da oben kommt – was ziemlich identisch mit den hinterwaldischen Vorstellungen der Hölle ist.
- häufigste Berufe: Löffelschnitzer, General; der Überschuss – es gibt mehr Generäle als Soldaten – stellt eine schwere Hypothek dar, immerhin gab und gibt es abseits von Schulen, Personality-Trainings und Fitnesscentern nur wenige Möglichkeiten, sie adäquat zu beschäftigen.
Neben den Löffelschnitzern gibt es eine Reihe ethnischer Minderheiten im Vereinigten Königreich, wobei das Wort "Minderheit" zu Missverständnissen führen kann: Die "Minderheit" der literarischen Figuren in Apark umfasst alleine 65 Millionen Individuen, hinzu kommen Flüchtlinge aus Dunkeldeutschland und Russland, die sich in Quadratl niedergelassen haben.
Geschichte
Graue Vorzeit bis Vorgestern
Wie die meisten Vor- und Frühgeschichten liegt auch die Hinterwalds im Dunkel. Der dünne Lack sicherer Erkenntnisse ist dafür leider nur ein vorgeschobener Grund, der eigentliche ist: es gibt nicht viel zu berichten. Wie alle frühen Hochkulturen beschäftigten sich auch die Hinterwalder vorrangig mit dem Überleben und dem Nahrungserwerb (weshalb man in diesem Zusammenhang auch von frühen Kochkulturen spricht), sprich: Tiere jagen, Beeren sammeln, ab und zu die Höhle auf Vordermann bringen, ein paar Nachkommen machen und ziemlich jung dahinscheiden – der glitzernde Inhalt eines Lebens in der Frühzeit.
Patriotische Historiker neigen dazu, die Stationen des Fortschritts hervorzuheben (Zähmung des Feuers, Erfindung des Rades, Metallver- arbeitung, Pfählen des ersten Nachbarn zur Abschreckung, Ganztagesschule, Zweitwagen für alle und sechswöchiger bezahlter Urlaub), vergessen dabei aber meist die Anzahl der Generationen, die zwischen den Wegmarken liegt. Es läuft auf folgendes hinaus: Wenn sich nach hunderten von Jahren niemand mehr genau erinnern kann, wer dieser ominöse Held war, der als erster einen Nachbarn auf einen Dönerspieß setzte, macht irgendjemand eine neue, bahnbrechende Entdeckung – zum Beispiel die Ganztagesschule. Wieder hunderte von Jahren später… es ist eine trostlose Angelegenheit.
Das schneckengleiche Vorankriechen auf der gewundenen Straße der Geschichte war für die Bewohner Hinterwalds bis ins 17. Jahrhundert hinein ein Vollzeitjob. Sie hausten zu dieser Zeit in kargen Lehmhütten, beackerten ihre Felder mit den Händen und im Schweiße ihres Angesichts, ernteten die Früchte des Feldes (wenige), schlachteten ihr Vieh (noch weniger) und zeugten ihre Kinder (sehr viele). Einige von diesen Kindern erreichten sogar die Volljärhigkeit (damals mit Ende zwanzig) – was ihnen Gelegenheit gab, ein wenig über die Zustände nachzudenken, in denen sie und ihre Mitmenschen da lebten.
- Sie sahen, dass es nicht gut war.
- Sie fanden, dass die Situation zum Himmel stank.
- Sie hatten eine Ahnung, wer Schuld an der Misere hatte.
- Sie ließen die Finger knacken und legten los.
Eine Generation später wehten die Banner stolzer Königreiche über Städten und Burgen, mit denen nun das Land gespickt war. Reiter preschten an vollbeladenen Karren vorbei über die Straßen, die sich wie Bänder durch Ebenen und Hügel wanden, die weniger Wald, dafür aber mehr Felder enthielten. Manche gruben noch immer mit den Händen im Boden und lebten in Lehmhütten, doch es waren weit weniger als eine Generation zuvor. Und noch weit weniger hatten nicht die geschichtsträchtigen Worte gehört, die wenige Jahre zuvor der erste König von Hinterwald zu seinen Rittern gesprochen hatte, als diese wieder einmal Toilette und Thron verwechselt hatten:
Anschließend ließ er sie – Schuldige wie Unschuldige – unterschiedslos wegen Majestätsbeleidigung hinrichten, denn schließlich lebte auch er in besagtem Jahrhundert und wollte ein Vorbild für sein Volk sein.
Von Vorgestern bis heute: Der Eiserne Otto räumt auf
Das Ende vom Lied
Das durchaus solide Regierungssystem der Könige hatte nur einen Haken: es stand und fiel mit dem vorhandenen Personal. Enkel und Urenkel mögen mit den kraftvollen Herren von einst verwandt sein – sie sind aber auch nicht mehr als das. Es sind eben nur Enkel und Urenkel, die Lorbeeren der Vorfahren werden von übergewichtigen, kurzatmigen Grenzdebilen getragen, die kaum weiter denken als bis zur nächsten Fuchsjagd, dem nächsten bacchantischen Gelage oder der nächsten Mätresse. Kurzum: Misswirtschaft, Korruption und Willkür waren an der Tagesordnung – und im Volk gärte es.
Vom Hobeln und von Spänen
Unter den vielen, die nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden waren, gab es einige, die vom Schlage der alten Könige waren. Einer von ihnen war ein gewisser Otto, der so arm war, dass er sich nicht einmal einen Nachnamen leisten konnte. Später nannte man ihn den Eisernen – und eines weiteren Kommentars bedurfte es auch nicht. Er nahm die Dinge in die eigenen groben Hände, und siehe, sie ballte sich zu einer Faust, vor der die Enkel und Urenkel sich fürchteten.
Der Eiserne Otto fegte mit Beharrlichkeit und Skrupellosigkeit die pervertierte Fürstenherrlichkeit beiseite. Er schuf ein einen Staat, der sich nicht um Landesgrenzen scherte, einen Staat, der nicht Territorium, sondern Idee war. Otto sorgte dafür, dass Könige, Kanzler und Regierungen künftig ein politisches Kasperletheater aufführen konnten, ohne wirklich an den Schaltstellen der Macht zu sitzen. Im Grunde schuf er ein System, in dem sich die Untertanen selbst regieren mussten, oder besser: sie mussten die anstehenden Probleme angehen, weil ihnen sonst keiner half. Es sollte eben nur nicht Regieren heißen, denn das, so war der Eiserne Otto überzeugt, verdirbt den Charakter.
Ein Samenkorn wird mal ein Baum...
Das System der völligen Lähmung der offiziellen Politik erwies sich als das Beste, was Hinterwald passieren konnte. Die Untertanen lebten und regelten ihre Angelegenheiten selber – und das Königreich gedieh. Wissenschaft, Wirtschaft, Musik und Literatur erblühten, die Lebenserwartung stieg, der allgemeine Wohlstand auch. Natürlich gab es Schattenseiten, die gibt es immer. Aber es half, wenn sich der skrupellose Schlotbaron vor denen, die er knechtete, fürchten musste, weil er keine Hilfe vom Staat erwarten durfte.
Während Ottos Regentschaft als Großkanzler (ein Amt, das er für Notfälle und fähige Leute geschaffen hatte) wurde die Mampfeisenbahn erfunden und ihr Schienennetz über das Land gelegt. Die Post wurde erfunden, Schiffe gebaut, die Welt erkundet. Hinterwald begann, die Welt außerhalb seiner eigenen Grenzen wahrzunehmen. Der Eiserne achtete darauf, dass der Kontakt nicht zu stark wurde: Der Rest der Welt hatte eigenartige Ideen, die nicht unbedingt zur Nachahmung geeignet waren. Hinterwald blieb ein stiller Sonderling im internationalen Konzert, der nur die Triangel spielen durfte und wollte. Mehr Engagement hielt Otto für Schwindel.
...der dich vielleicht erschlägt
Nach dreißig Jahren intensiven Schaffens trat der Eiserne 1786 von seinem Amt zurück – und musste feststellen, dass er unersetzlich war. Bis zu seinem Tod 1791 im Alter von 168 Jahren blieb er darum den Hinterwaldern als Halbkönig erhalten, die sich nicht von ihm trennen mochten. Das Amt des Großkanzlers blieb bis zum September 1802 unbesetzt, wo es im Zuge der Bedrohung Ozeaniens durch ein schwarzes Loch mit Prof. Dr. Solon Winckelzug (bis dahin Leiter der Universität Itz) besetzt wurde, der trotz akademischem Lack ein Naturell hatte, das dem des Eisernen Otto entsprach.
Politik
Die offizielle Bezeichnung des Königreiches Hinterwald lautet Königlich- Königliches Königreich der vereinigten Königreiche von Rauthen und Hinterwald, was im Grunde nichts bedeuten muss. Hinter dem Titel verbirgt sich keine tiefere Wahrheit, es handelt sich lediglich im ornithologischen Sinne um einen Schreckputz - anders formuliert: Steht die Sonne tief, werfen auch Zwerge lange Schatten.
Deutlichster Ausdruck dieser Aufplusterung findet sich im Militärischen, genauer in der Sieben Hinterwalder genannten standardmäßigen Formation der Hinterwalder Infanterie. Sieben Soldaten tragen dabei zusammen einen gewaltigen Speer, wobei sie in einem an Ballett erinnernden Gleichschritt über das Feld der Ehre tanzen. Ziel ist es, den jeweiligen Gegner derart aus der Fassung zu bringen, dass er freiwillig aufgibt. In jüngerer Zeit regte sich in den progressiven Kreisen von Hinterwald deutliche Kritik an dieser traditionellen Taktik, doch das Oberkommando beendete die Debatte schnell und vollständig mit den Worten:
"...und wenn Sie mir hundertmal sagen, dass unsere Lanzentaktik heutzutage blöd- oder irrsinnig ist: bei Paraden erfüllt sie ihre Wirkung, die Mädels stehen drauf."
Regierung
Rein rechtlich gesehen ist Hinterwald eine Doppelmonarchie mit parlamentarischen Elementen. Jedes Amt des Landes wird grundsätzlich doppelt besetzt ohne jede interne hierarchische Abstufung. Das daraus resultierende Verantwortlichkeitschaos ist gewollt und soll die äußerst verpönte Alleinherrschaft eines Einzelnen oder des Volkes verhindern; da man nur ein Volk hat, kann man es nicht doppeln, folglich ist es zum Herrschen ungeeignet.
Neben den beiden Halbkönigen, die lediglich repäsentative und blitzableitende Funktion haben (für den Fall, dass etwas schief geht, sind sie im Wortsinn die Staatsspitze und zugleich die Erdung: Die Köpfe fallen von ganz oben bis zum Boden), stehen die beiden Halbkanzler den beiden Regierungen vor, die die Beschlüsse der beiden Kammern des Hinterwalder Doppelrates umzusetzen haben – zumindest in der Theorie. Faktisch lähmen sich die Organe des Staates so ausgezeichnet, dass das Volk keinem lästigen Regiertwerden ausgesetzt ist, so dass es sich ungehindert selbst mit den alltäglichen Dingen des Lebens befassen kann.
In der Folge erfreuen sich politische Ämter aufgrund ihrer faktischen Bedeutungslosigkeit nicht unbedingt großer Nachfrage. In Verbindung mit den mageren Diäten (es teilen sich stets zwei Amtsträger ein sowieso nur symbolisches Gehalt) führt dies zu einer einzigartigen Situation: Abgesehen von den Staats- und Regierungsspitzen werden alle Funktionen von unbezahlten Praktikanten wahrgenommen, die für freie Kost und Logis die Zeit bis zum oder nach dem Studium überbrücken wollen. Politik wird damit nicht wie im Rest der Welt bevorzugt von älteren Herren praktiziert, sondern von der Jugend.
Innenpolitik
Für das Hinterwald des 19. Jahrhunderts gilt noch immer der 1781 vom Eisernen Otto geprägte Leitsatz "Politik ist Innenpolitik" (in Abgrenzung zu dem bekannten Diktum Innenpolitik ist Außenpolitik). Man ist der festen Überzeugung, dass es den Rest der Welt eine feuchte Flatulenz angeht, wie die Hinterwalder ihre inneren Verhältnisse organisieren. Desgleichen verwahrt man sich gegen Vorstellungen, etwaige innere Spannungen nach außen abzuleiten; auch hier gilt die vom Eisernen Otto vorgegebene Linie:
(Der Eiserne Otto: Rede vor dem Doppelrat, 1781)
So sehr der Eiserne Otto den Abgeordneten auch an die Vernunft der Abgeordneten appellierte, er hielt es für angebracht, eine Instanz zu schaffen, die über die Politik der strikten Nichteinmischung wachen sollte. Dieser Hinterhalt (Hinterwalder Hochkommissariat für Aufklärung von Lüge und Tricksereien) genannte Inlandsgeheimdienst operiert seit Mitte der 1780er Jahre recht erfolgreich, genießt allerdings einen recht zweifelhaften Ruf. Es mag an den schwarzen schwarzen Uniformen oder ihrem Logo, dem Zeichen der verbietenden Hand, liegen - beliebt sich die Hinterhaltler nicht. Und wie so oft hat dies zur Folge, dass vor allem junge Menschen ziemlich fasziniert von dieser Organisation sind, was eine eigene literarische Sparte namens hinterhältige Romane samt Fanzirkus nach sich zieht.
Außenpolitik
Trotz der Konzentration auf die Innenpolitik kommt auch Hinterwald nicht umhin, sich mit externen Dingen zu beschäftigen. Zu diesem Zweck wurde parallel zum Inlandsgeheimdienst eine zweite Organisation mit dem Namen Interhalt (Internatinales Hochkommissariat für Aufklärung von Lüge und Tricksereien) gegründet. Diese tritt in Hinterwald selbst kaum in Erscheinung, sieht man von einigen kleinen Personalquerelen und Affären ab, wie sie für solche Einrichtungen typisch sind.
Die Wichtigkeit der Interhalt zeigte sich jedoch kurz vor und während des Sozialistischen Krieges. Die Zündung der Bassbombe in Molldurisch-Basnana blieb auch für Hinterwald nicht ohne Folgen. Insbesondere im südlichen Hinterwald und in Rauthen waren die seltsamen und grauenerregenden Töne zu hören, wenngleich das Doppelkopfgebirge einen Großteil der normalerweise tödlichen Akustik in den offenen Weltraum ablenkte.
Dennoch zeigten sich bei einigen Bergbauern höchst merkwürdige Veränderungen: Sie trugen ihre Hosen auf Höhe der Kniekehlen, verwendeten gehäuft das Wort "Alter" (was den ins Krisengebiet entsandten Agenten die Zornesröte ins Gesicht schießen ließ) und sprachen auch sonst in einer fremden Sprache, die niemand verstand. Allerdings endete der Spuk so schnell wie er begonnen hatte. Über die Rolle der Interhalt dabei lässt sich nur wenig sagen, die Regierung leugnet bis heute die Existenz der Organisation.
Infrastruktur und Wirtschaft
Hinterwald befindet sich sowohl wirtschaftlich als auch verkehrstechnisch im Stadium der späten Frühindustrialisierung, was bedeutet, dass rauchende Schlote als Zeichen von Wohlstand und überlastete Verkehrswege als Hinweis auf eine Aufbruchsstimmung verstanden werden. Zu dieser unverkrampften Einstellung trägt der Umstand bei, dass die meisten Schlotbarone im Hauptberuf Brotbarone sind, die viel Landwirtschaft betreiben: Schwermetalle im Gänsebraten oder dem Roggenbrötchen finden auch sie nicht lustig.
Das Stadium wirtschaftlicher Entwicklung sowie die erstaunlich umweltfreundliche Technik der Mampfmaschine sorgen dafür, dass die hässlichen Seiten der zunehmenden Prosperität vergleichsweise unbedeutend bleiben. Auch führt die elementare Ignoranz gegenüber dem Rest der Welt dazu, dass Hinterwald nichts anderes als den Binnenmarkt kennt.
Export
Einziges Exportgut von Bedeutung sind die so genannten Hinterwalder Eintagshunde. Dabei handelt es sich um spezielle Züchtungen, die dem normalen Hund wie ein Ei dem anderen gleichen, sieht man einmal von der Lebensdauer ab, die etwa vierundzwanzig Stunden beträgt. Seltsamerweise erfreut sich diese eigenartige Kreatur trotz ihrer offensichtlichen Nutzlosigkeit im Ausland größter Beliebtheit. Die Hinterwalder selbst halten nicht viel davon, lächeln aber und verschicken eifrig eine Postsendung nach der anderen. Geschäft ist Geschäft, auch in Hinterwald.
Import
In materieller Hinsicht pflegt man in Hinterwald eine radikale Autarkie, was zur Folge hat, dass es eine Wareneinfuhr im Wortsinn nicht gibt. Jedoch gelten Nachrichten aus dem Rest der Welt in Hinterwald als Import, was dafür sorgt, dass sie horrend besteuert werden. Informationen sind Luxusgüter, die nur unter der Theke verkauft werden, und auch das nur an Hinterwalder über zweiunddreißig Jahren (die Langlebigkeit der Löffelschnitzer schlägt sich auch bei der Volljährigkeit nieder). Einzig die Universitäten des Landes unterliegen nicht der Nachrichtenbesteuerung. Leider wird die akademische Laufbahn dadurch gerade für Nachrichtenjunkies interessant, so dass auch an den Hochschulen Kontrollen zunehmen. Im Informationssektor blüht der Schmuggel – nur so ist zu erklären, dass Hinterwald je etwas vom Ozeanienkonflik oder dem Sozialistischen Krieg gehört hat. Strafzölle und intensive Aktivitäten der Hinterwalder Grenzpolizei verringern nur den Zufluss von Nachrichten und halten die Preise hoch – eindämmen lässt sich der Schmuggel nicht.
Kunst und Kultur
Literatur und Dichtung
Die literarische Tradition des Vereinigten Königreiches ist ausgesprochen reichhaltig. Die ältesten Quellen stammen aus der Steinzeit und belegen nicht nur die Existenz der Schule der Elementardichtung in Hinterwald, sondern auch deren Entstehung in den Hohen Höhlen von Oberrauthen. Erstaunlich ist vor allem die Qualität des Prosawerks der Steinzeitdichter, hier ein Auszug aus der leider anonym gebliebenen Novelle Das Leben:
(Übers.: "Ah, seht, nur, der Fels dort, kann ich ihn essen? Kann ich ihn töten? Kann ich ihn begatten? Und dort, der Baum, kann ich ihn essen? Kann ich ihn töten? Kann ich ihn begatten? Ah, das Leben ist wundervoll!")
Auf diese meisterhaften und progressiven Anfänge schloss sich eine lange Phase der Stagnation an, die erst Mitte des 17. Jahrhunderts endete. Allerdings setzte namentlich mit Gilean Morphius eine regelrechte Explosion literarischen Schaffens in allen Bereichen ein. Sonettzyklen wie Rainhyr Schimmelshausens Das Geätzte Gebet (1651, 18 Bände) und Dramen wie Ramo de Ruybers Gallenstein (1653) und Die werbende Sappho (1654) gehören heute zum Kreis der Weltliteratur und Schullektüre gleichermaßen.
Die Expansion von Lyrik und Dramatik fand im 17. Jahrhundert allerdings auf Kosten der Prosa statt, die man weder damals noch heute jemandem anbieten konnte: Die Romane hatten weder Handlung noch irgendeine Spannung, vielmehr handelte es sich um endlose Dialoge, die sich in Floskeln und Belanglosigkeiten ergingen, ohne je ein Ende zu finden. Die daraus erwachsenden Schwarten wurden nicht einmal als Klopapier verwendet, da sie angeblich die Hämorrhoiden ins Kraut schießen ließen und zu dauerhafter Verstopfung mit Todesfolge führten. Erst im 18. Jahrhundert entwickelte sich eine ernsthafte Prosa, die nicht sofort in den Giftschrank gehörte. Allerdings gab es auch hier diverse Entgleisungen. So ist es heute bei schwerster Strafe verboten, Wotan Rolfsangs Hummelgesäße (1721) oder Kilbert von Sessels Niedergerungene Postamente (1732) auch nur anzurühren. Bleibend und von Weltrang sind jedoch:
- Svaro Hortens Die Abstufungen der Nacht (1741)
- Erna Freifrau zu Schnackans Poeme niederer Neigung (1744)
- Oznathan Dreiwinckels Schmolljahre des Hasenpfeffers (1745)
- Leira Impflingers Sternschauer im Madenhimmel (1752)
Der qualitativen und quantitativen Steigerung im Bereich des Romans stand ein Verfall alter lyrischer Traditionen gegenüber. So konnte sich die hohe Schule des Nonsensismus nicht gegen die drögen, pseudorealistischen Verswerke des Hornbacher Hains behaupten, dessen Mitglieder am Ende Klage gegen alle Dichter einreichten (auch sich selbst), da alle Dichtung angeblich Lüge und damit ein Gesetzesverstoß sei. Eine Beschleunigung des Verfalls setzte mit der Diskreten Poesie der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts ein, die leere Seiten drucken ließen, auf denen angeblich die unanstößigsten Gedichte standen, die jemals geschrieben worden waren.
Die Dramatik wurde teilweise in die qualitative Abwärtsspirale der Lyrik hineingezogen. Stellte Tamila Losenbundts Schamwärter Schiel (1762) noch ein solides, wenn auch nicht begeisterndes Stück dar, müssen die Werke der siebziger, achziger und neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts, wie etwa Giullta van Hinrichts Schlammschlachten (1791) eindeutig als blasser Abklatsch früherer Größe gesehen werden.
Musik
Neben der eher unspektakulären und recht dilettantisch betriebenen Volksmusik, die auch bei wohlwollender Betrachtung keinen Pfifferling wert ist, existiert in Hinterwald seit dem 18. Jahrhundert eine musikalische Tradition von Weltrang, der romantische Hybrismus. Bedeutendster weil einziger Vertreter dieser Richtung ist Ardrich Gwaner. Zentrales Anliegen des Hybrismus ist die restlose Verschmelzung von Kunst und Leben, was vor allem durch die extreme Länge der Aufführungen erreicht wird: wenn eine Aufführung vierundzwanzig Stunden dauert, bleiben genau null Stunden, null Minuten und null Sekunden für normales Leben; da die Zuschauer beim Hören der Musik jedoch zweifelsfrei am Leben sind (zumindest anfangs), kommt es zu der erwünschten Verschmelzung – Leben ist Musik und Musik ist Leben.
Erstmals erreichte Gwaner sein Ziel mit der Uraufführung von Die Schwanensänger vom Senkelsee in Quadratl, an deren Ende sich jedoch ein aufgebrachter Mob bildete, der sein Geld zurückverlangte. Gwaner floh über die Grenze nach Rauthen. Er ließ sich jedoch nicht beirren und komponierte in nur sechzig Tagen Der Fall Parzi, der es bereits auf 36 Stunden brachte und in Querquell uraufgeführt wurde. Leider reagierte das Publikum dort ebenfalls ungnädig auf Gwaners musikalische Vorstellungen. Abermals musste er fliehen, diesmal nach Witwenthal. Dort fand er ein Publikum ganz nach seinem Geschmack: die Leute dachten und fühlten langsam, brachten viel Zeit mit und hatten keine größeren Pläne hinsichtlich ihres weiteren Lebens – Die Schranzen (42 Stunden), Der Brandhäuser (zweieinhalb Wochen) und Der Zwölfender (ein Sommer) wurden enorme Erfolge.
Davon beflügelt nahm der mittlerweile gealterte Gwaner sein letztes Meisterwerk in Angriff, Das Ding der Babelungen. Dieses mit Recht als „monströs“ bezeichnete Bühnenstück hatte überhaupt kein Ende und beruhte auf Algorithmen, die eine periodische Wiederholung mit immer neuen Zufalls- variationen erlaubte. In der Folge wird das 1782 gestartete Stück bis heute gespielt – angeblich nähert es sich langsam der ersten Zäsur im ersten Akt.
Aufregung gab es, als der Dirigent (Gwaner selbst) am Ende der Ouvertüre (Juni 1794) an Altersschwäche verstarb sowie während des Langen Allegros (Mai 1795 bis Oktober 1799), als die zweiten Violinen den Aufstand probten. Während der laufenden Aufführung kamen insgesamt neunundreißig Personen zu Tode, davon starben etwa zwanzig eines natürlichen Todes. Im Gegenzug kamen aber über vierzig Kinder zur Welt, ein Umstand, der den Kritikern dieses Projekts stets entgegengehalten wird.
Großartige Erfindungen: Die Mampfmaschine
Das Ende der seit archaischen Zeiten für Hinterwald normalen Stagnation kam mit der Erfindung der Mampfmaschine am Ende des 17. Jahrhunderts. In einer anderen Welt zu einer anderen Zeit hätte man dabei wohl von Biotechnologie, Kybernetik und ähnlichen Dingen gesprochen – nicht so in Hinterwald. Der Erfinder Johann-Weltlieb Squattenberg sprach für den Normaluntertan vor allem in Rätseln, aber sie gingen alle in Richtung von Das Runde muss ins Eckige. Fakt war:
- Laufen ist blöd.
- Steine schleppen ist blöd.
- Steine zu Fuß über hunderte von Kilometern zu schleppen ist noch blöder.
Die Lösung hieß: Mampfmaschine. Im Grunde handelte es sich um eine Art mutiertes Zugpferd, das fest mit seinem Wagen verwachsen war und statt Hufen vier kräftige Arme und Hände hatte, die eine Welle drehen konnten. Fertig. Montiert auf ein Gestell mit Rädern, dass sich auf Schienen bewegte, wurde aus der Mampfmaschine eine Mampflokomotive.
Warum Mampf? Die Erfindung wies die unangenehme Eigenschaft auf, nach Fütterung zu verlangen (ansonsten streikte sie). Da es sich um ein Lebewesen handelte, kamen als Treibstoff nur Lebensmittel in Frage. Daran war Hinterwald nicht unbedingt arm, aber auch nicht übermäßig mit ihnen gesegnet - niemand verfeuert gerne Sahnetorten für ein zweifelhaftes Projekt. Glücklicherweise wurden zur selben Zeit in den Bergen Hinterwalds unterirdische Eiweiß- Kohlenhydrat- Fett- Vorkommen entdeckt. Diese übel riechende noch schlimmer schmeckende Pampe nannten die Entdecker kurzerhand Mampf (sie waren überhaupt Freunde von kurzsilbigen Worten wie Marsch, Attacke und Achtung – das besagt nicht so viel wie es sollte, aber manchmal ist es doch gut, solche Dinge zu wissen).
Die organische Masse war ein Geschenk des Himmels, das dafür sorgte, dass sich bald schon Schienenstränge durch ganz Hinterwald zogen und hunderte von Schächten in die Erde gegraben wurden. Städte wuchsen und rückten näher zusammen, Menschen, die bisher mehrere Kilometer dichten gefährlichen Waldes zwischen sich gehabt hatten, wurden plötzlich Nachbarn. Einige wenige wurden sehr reich. Die anderen hatten weniger Glück, aber man sagt, die Elendsquartiere am Rande der Städte seien in Wirklichkeit nicht so schlimm wie ihr Ruf – und außerdem: den Tüchtigen gehört bekanntlich die Welt.
Randnotiz: Johann-Weltlieb Squattenberg starb mit Anfang vierzig im Armenhaus von Ghettoveto, dem übelsten Vorort von Quadratl. Selbst unter den Armen galt er als Hungerleider. Nicht dass er es versäumt hätte, seine Erfindung patentieren zu lassen, nein, aber ein schlecht bezahlter Beamter änderte die Akten auf Bitte eines bedeutenden und wertvollen Mitglieds der besseren Klassen für einen läppischen Betrag von 26 Quartalern (ca. 56,30 Euro). Leider müssen sich die Tüchtigen die Welt mit den Reichen, Blaublütigen und Skrupellosen teilen.
Weiterführende Literatur
- Greisenfaust, Tiberias von: Lektionen der Geschichte. Entstehung und Bedeutung der Hinterwalder Infanterie. Querquell: Makulaturm-Verlag 1792. 140 S.
- Itzländer, Paul: Von Augenschmaus bis Zitzenauflauf. Eine kulinarische Reise durch Hinterwald. Witwenthal: Geldschneider-Verlag 1801. 314 S.
- Keulenhieb, Radegast: Zwei Mann, ein Wort. Die Entstehung der Hinterwalder Doppelmonarchie in der spätantiken Renaissance. 3 Bde. Querquell: Makulaturm-Verlag 1799. 1282 S.
- Krempel, Shilby: Mampfwahn. Die Erfindung, Ausbreitung und Entwicklung der Hinterwalder Mampfeisenbahn. Eine sozialpsychologische Untersuchung eines Holzweges. Quadratl: Seelenschmaus-Verlag 1794. 882 S.
- Lesotho, Raybert: Ewiger Sang. Ardrich Gwaners epochale Musiktheorie mit zahlreichen Verweisen auf die Aufführungspraxis. Querquell: Notorischer Verlag 1802. 644 S.
- Naumhari, Ismene: Politische Zweckdienlichkeit. Die Rolle der In- und Auslandgeheimdienste im Hinterwald des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Eine empirische Studie. Quadratl: Seelenschmaus-Verlag 1802. 592 S.
- Senffholm, Pilga-Marja: Der Salto seitwärts. Überblick über die Entwicklung von Kunst und Kultur im Hinterwald des 18. Jahrhunderts. Quadratl: Tiefdruck-Verlag 1800. 512 S.
- Ubel, Lyma-Lysandria: Der Eiserne Otto. Eine Biographie. Quadratl: Hamsterverlag 1796. 874 S.
|