Abiball

Der Abiball oder Absch(l)ussball ist ein traumatischer Initiationsritus an der Schwelle zum Erwachsensein, in dem unter Verwendung überteuerter Mixgetränke und einer fünf Euro teuren Ballermann Hits-CD von der nahegelegenen Dorftankstelle die Verabschiedung eines etwa 60 Mann starken Teams junger akademischer Köpfe in die Welt der freien Wirtschaft begangen wird. Obwohl der Besuch eines Abiballs von zwei bis drei angehenden Eventmanagern jeder Jahrgangsstufe bis ins Detail durchgeplant und das Besucherzeremoniell hochgradig standardisiert ist, endet ein Abiball in der Regel in Anarchie, ungeschütztem Sex einiger Teilnehmer auf dem Klo und dem Verschwinden mindestens eines Jahrgangsabsolventen.

Aktuelles Abiball-Foto.

Organisation und Finanzierung

Typisch Abiball: Improvisation, wo man hinguckt.

Mit der Organisation und Planung des Abiballs beginnt eine kleine Gruppe von Oberstufenschülern bereits am Ende der zehnten Klasse. Während an amerikanischen Gesamtschulen Planungskomitees zur Vorbereitung des Abschlussballs existieren, bekämpfen viele deutsche Schulen die Veranstaltung immer noch als Inbegriff westlicher Unkultur, befürworten Schülerplanungen zur Arbeits- und Aufsichtserleichterung und verweisen ausschließlich auf private Finanzierungskonzepte, um ihren Teilzeitkräften die Anschaffung von Massagesesseln im Lehrerzimmer zu ermöglichen. Nichtsdestotrotz ist der Abiball als letzter Tag der Zusammenkunft aller Absolventen einer Jahrgangsstufe auch ein Freudenfest für die erziehungsberechtigten Saisonarbeiter, von denen einige eine emotionale Bindung zu ihrer mental unerreichten Klientel aufgebaut haben, um ihre pädagogischen Unzulänglichkeiten zu überspielen. Deswegen sagen sich auch einige Lehrer zum Abiball an, die dann aber doch nicht auftauchen, weil an dem Abend z.B. gerade der Tatort läuft.

Umso eifriger versuchen die ehrenamtlichen Veranstaltungsplaner unter den Schülern den Ball auf die Beine zu stellen. Ihren Elan und ihre persönliche Hingabe begründen sie damit, dass er die letzte Gelegenheit sein würde, all ihre Jahrgangskollegen noch einmal vollzählig zu sehen oder dass es ein Abend sein soll, der unvergesslich wird. Doch die Realität sieht oft anders aus: Jüngere und zart besaitete Seelen werden durch den Abiball Stress verheizt, bekommen papiergirlandenbedingte Neurosen oder leiden ewig unter den psychischen Folgen eines gescheiterten DJ-Bookings. Übereifrige investieren soviel Zeit und Zank in die Verwirklichung ihrer Abiball-Pläne, dass sie all ihre Kurse und Noten vernachlässigen und es als einige wenige der gesamten Jahrgangsstufe nicht schaffen, die qualifizierenden Vorraussetzungen für die Teilnahme an diesem Tag überhaupt erst zu erfüllen. Das wird dann wahrlich unvergesslich.

Zuoberst wird ein Provinzballsaal für die Feier zu utopischen Summen angemietet, der schon von hunderten Abschlussjahrgängen verunstaltet und leergeklaut wurde und mit einer notdürftigen Bierzeltgarnitur aus dem Baumarkt bestellt wird. Hier ist einer der wenigen Momente, an denen sich das Planungskomitee gewahr wird, dass es noch andere Abschlussklassen gibt, die einen Saal brauchen, weswegen meist durch Schmiergeld und familiäre Beziehungen Saalmieten zu Flexipreisen an diesen Tagen schon über Jahre vergeben sind. Die eine rückständige Hinterwäldlerschule muss dann meist auf einen halboffenen Veranstaltungsbereich mit Grillgelegenheit in der entlegensten Botanik ausweichen, der von überall her mindestens eineinhalb Stunden Anfahrtsweg mit dem Auto hat, dessen räumliche Kapazitäten gemütlich zu nennen sind und in dem nach wenigen Stunden das Licht ausfällt, weil ein Marder im Notstromaggregat verendet ist.

Dresscode

Wer nicht kommt zur rechten Zeit...

Unmittelbar bevor der Abiball mit völlig überzogenen Erwartungen begangen wird, fällt vielen männlichen Teilnehmern auf, dass der Konfirmations- bzw. Jugendweihesanzug nicht mehr passt. Ungeschriebenen Konventionen zufolge, die vor der Abschlussplanung und Generalprobe des Balls noch einmal aufgeschrieben und verlesen werden, ist ihnen aber bekannt, dass, egal ob mit oder ohne Begleitung, das Aussehen eines mittelreichen, internationalen Geschäftmannes verlangt wird.

Obwohl sie das wissen, lassen sie es sich dennoch nicht nehmen, bis kurz vor dem Ball zu warten, um anschließend alle in denselben C&A zu laufen und irgendein übergroßes Sacko aus der Kinderabteilung für 29.90 Euro zu erstehen. In den meisten Fällen führt das dazu, dass am großen Abend lauter Möchtegern-James Bonds aufschlagen, die aussehen, wie Kermit der Frosch mit Schulterpolstern und mit ihren clerasilimmunen Gesichtern die Mädchen verschrecken. Weil es neben der mit Wetgel tupierten Frisurnachbildung ebenfalls zum westlichen Schönheitsideal gehört, versucht sich der Abiturient von Welt zur Feier des Tages auch an seiner ersten Nassrasur und trägt dazu ein Rasierwasser aus der hintersten Ecke des Badezimmerschrankes auf, das nicht nur riecht, wie eine Mischung aus Terpentin und Trabantabgasen, sondern auch genauso auf der Haut wirkt. Mit einer feuerroten Bartnachbildung und einer Duftwolke, die eindeutig signalisiert, dass er an Geschlechtsverkehr nicht interessiert ist, begibt er sich zum Ball, um zu schauen, was der Abend für ihn bereit hält.

Partnerlook ist nicht angebracht.
Ein Blick in den Dresscode lohnt sich immer. Hier ein großer Ausschnitt.

Die junge Abiturientin hingegen hat schon seit der Vorschulzeit für diesen Anlass ein Kleid im Schrank liegen, dass sie nach einem 16stündigen Friseurmarathon mit viel Watte ausstopft, um an den entscheidenden Stellen erwachsen zu wirken. An der Kleidwahl lassen sich Zukunftsabsichten und Stimmungslagen begreifen. Je tiefer der Ausschnitt Einblick auf die jungen erntereifen Früchte der Liebe bietet, desto höher ist die Bereitschaft zur Schwängerung durch den am wenigsten unangenehmen Altersgenossen, bzw. den zehn Jahre älteren Freund. Andere Teilnehmerinnen, geben sich, obwohl sie duften wie die Teststrecke im Douglas Parfümshop eleganter und achten darauf, eine gewisse Würde und Anmut als angehende Akademikerin zu wahren, die spätestens nach dem dritten Alkopop, ebenso wie bei angehenden Akademikerinnen, wieder verflogen ist. Das wichtigste ist den jungen Frauen jedenfalls, ihre Invidualität zu unterstreichen, denn es wäre ein deutlicher Grund für den Freitod, wenn die Klassenkameradin dasselbe Ballkleid auftragen würde. Deswegen gibt es extra Läden, die sich auf eine immense Formenvielfalt an schwarzen Kleidern für 18jährige, langhaarige Blondinen eingestellt haben, damit man später auf Erinnerungsfotos sagen kann: "Siehst du? Das war die mit den Spaghettiträgern und das war die, die fast dasselbe anhatte wie ich, keine Ahnung wie die hieß."

Musik

DJ grinst beim Gedanken an seine enorme Gage.

Mit der musikalischen Planung der Veranstaltung werden die musikkaffinsten Schüler eines Jahrgangs betreut, was aber nichts heißen muss. Natürlich ist für die Schüler des Planungskommitees ihr Abschlussball der beste und natürlich soll auf jedem Abschlussball mindestens Brian Adams aufspielen. Was die Planer erhalten, schwankt meist zwischen einer mittelmäßigen Schüler- bzw. Dorfband oder einem Hobby-DJ, die zwar beide nicht Brian Adams sind, dafür aber wenigstens das das doppelte an Gage nehmen.

Die meisten engagierten Bands für Schülerbälle tauchen pünktlich ein bis zwei Stunden nach dem vereinbarten Termin auf und bringen alles selbst mit, was sie fürs Spielen benötigen: Bier, Wein, Schnaps und die bewusstseinserweiternden Substanzen, die sie in ihrem Blut in den Saal schmuggeln. Nur die Instrumente vergessen sie. Nachdem noch eineinhalb Stunden für das Nachholen und den Aufbau derselben verstrichen sind, beginnen sie ihr 45-minütiges Programm abzuspulen, bestehend aus einer auswendig gelernten Best of-Platte der größten Partyhits von 1996, von dem jedes Lied in einer fünfminütigen Soloimproviation des selbstbewussten Bandgitarristen endet.

Ein DJ ist eine flexible Alternative zur musikalischen Untermalung durch Live-Musik. Er spielt zwar dasselbe wie die Band, hat aber den Vorteil, dass er nach zwei Stunden keine Lust mehr hat und spurlos verschwindet, während er sein Equipment den angetrunkenen Eckenstehern in seiner Nähe überlässt, die mit ihren Schlagertrash-CDs Gewehr bei Fuß stehen.

Musik auf einem Abiball unterliegt einer Konsensfähigkeit, daher wählen Sachverständige nur solche Titel aus, die niemandem gefallen, denn so kann man sich hinterher darauf einigen, dass jeder die Musik scheiße fand. Spätestens nachdem aber die wenigen mühsam durchgeplanten Programmpunkte dem hemmschwellengeschuldeten Betrinken Platz machen und Lehrer wie Eltern durch zähe Bühnenprogramme und verkohlte Grillwürstchen mürbe gemacht wurden, hört sich für die allein weiterfeiernden Abiturienten jedes musikalische Werk, zu dem man nicht "Schalalala" brüllen kann absolut inakzeptabel an. Bis auf einige Schulen im Hinterland von Mecklenburg-Vorpommern bevorzugen daher wenige Jahrgänge für ihren Abschlussball Gustav Mahler oder Richard Wagner.

Ablauf

Rassistischer Kommentar zu diesem Bild: Das ist nur der Fahrer.

Jeder Abiball beginnt mit der Anreise, die je nach Person allein oder in verschüchterter Begleitung eines männlichen/weiblichen Mitschülers angetreten wird, der/die notgedrungen, auf eine Verabredung zum Ballgeschehen eingewilligt hat, weil er/sie niemand anderen gefunden hat. Wichtig ist, dass es das beste Familienauto ist, mit dem der meist männliche Protagonist zum Ball anreist, damit sich ein gemeldeter Versicherungsschaden durch vollgekotztes Interieur oder unbekannte Vandalen nach dem Ball auch wirklich lohnt.

Nachdem das Paar oder der einsame Jüngling den Eingangsbereich des Saales erreicht hat, kauft er eine überteuerte Eintrittskarte, obwohl er vom Planungskomitee bereits seit zwei Jahren zu Spenden genötigt wird. Das zynische daran ist, dass die Erlöse der Eintrittskarten nur dazu da sind, den Eintrittskartenverkäufer am Eingang zu entlohnen. Anschließend werden die Teilnehmer nacheinander von einem penetranten Fotografen bedrängt, während sie zu einem Glas Billiggesöff ihre Straßenkleidung unentwirrbar durcheinanderhängen. Ja nach Provinzialität der Veranstaltung werden nach diesem Empfang vielleicht noch die Schuhe ausgezogen und der Saal betreten.

Der Schulleiter ist weg, bevor die Hose platzt. Hier schon mit deutlichem Unwohlsein.

Der erste Teil des Balls, nachdem die Absolventen ihre Plätze neben völlig unbekannten oder verhassten Jahrgangsgenossen eingenommen haben, besteht aus einem Rahmenprogramm, in dem einige wenige Absolventen vom temporär anwesenden Schulleiter in den Himmel gelobt werden. Der Tenor bei den Präsentationen und Preisen dieser Hervorhebungen ist immer derselbe: Schön, dass es wenigstens einer aus diesem Jahrgang zu etwas bringen wird. Während hinter dem Saal der Familienvater mit den schlechtesten Ausreden zum Grillen verurteilt wurde und einige Bedienstete fleißig die viel zu zahlreiche Nahrung auf die Pappteller der Gäste schaufeln, ergießen sich in das Toys"R"Us-Mikrofon auf der Bühne schwülstige oder peinliche Reden über irgendwelche Lehrer und Insiderbegebenheiten aus der Schulzeit, zu denen anwesende Eltern nur freundlich schockiert den Kopf schütteln können. Wenn die Veranstalter Glück haben, können sie einen Lichtbildprojektor auftreiben, um zu einem improvisierten Bühnenlicht aus zwei Deckenflutern und einer Endlosschleife von "Time of my life" die Bilder ihrer betrunkenen Klassenkameraden von der letzten niveauvollen Busreise nach Lloret de Mar an die Wand zu werfen, während ein überbezahlter Hobbyfotograf durch die Reihen zieht und die schlecht sitztenden Ausschnitte der jungen Abiturientinnen fotografiert.

Meine Oma hat immer gesagt: "Wachst du nicht neben deiner eigenen Kotze auf, war es kein richtiger Abiball"

Obschon der reizvollen Gelegenheit, sich über mehrere Stunden selbst zu feiern, treibt den Anwesenden nach dem zehnten oder zwölften rhetorischem Genie die Langeweile ein Gähnen in die Gesichter, sodass die restlichen 20 Redner, die bereit stehen, irgendwann vom Jahrgangssprecher abgewürgt werden, der in seiner veratwortungsvollen Position noch die Punschschüsseln eröffnen muss. Ist das steife Sitzprogramm überstanden, wird die gegenseitige Scham in Alkohol ertränkt, um aufbauend auf den selbstglorifizierenden Reden und Programmpunkten, mit dem hustensaftähnlichen Gebräu vom kalten Buffet die Realität schön zu trinken.

Sind die Eltern froh, dass sie endlich aus dem Saal herauskommen und die Kinder froh, dass sich die Eltern endlich verabschieden, werden die Bier- und Likörkisten unter den Buffettischen vorgezogen und das Niveau der allgemeinen Hochschulreife mit peinlichen und anstößigen Tanzeinlagen und Trinkspielen begossen. In einer lockeren Atmosphäre bilden sich schnell kleinere Grüppchen, in denen noch ein letztzes Mal über bestimmte Mitschüler hergezogen werden oder nach drei seichten Schnapsgläsern wirre Zukunftvisionen besprochen werden. Der Abend klingt meist aus, wenn die ersten Grüppchen zum nächsten McDonalds losziehen, um sich dort schrecklich daneben zu benehmen und die Saaltoiletten unbenutzbar geworden sind.

Teilnehmer

Das Partytier

Partytier mit Anhang.

Das Partytier benötigt keine Einladung zum Ball. Er schlägt meist erst auf, wenn die Stimmung bereits gelockert und der Aufpasser am Eintrittkartenschalter eingeschlafen ist. Dann stürmt er mit einer zehn Mann starken Horde Unbekannter, mit denen er mit fünf Flaschen Eierlikör im Hobbykeller seines Vaters ordentlich vorgeglüht hat, sturzbetrunken den Saal und fällt über die Bowleschüsseln am kalten Buffet her. Anschließend drängt er sich auf Fotos mit ausgelassen feiernden Abiturienten in den Hintergrund und säuselt der Mutter eines Mitschülers mit einer heiseren Stimme und Ginfahne ins Ohr, dass er sie schon immer "atfrakdiv gewundn" habe. Ist nach einer Weile wieder Ruhe im Ballgeschehen eingekehrt, sucht er sich eine gemütliche Ecke zum Erbrechen und schläft anschließend auf dem Gehsteig ein. Pünktlich zum Aufbruch der ersten Besucher sitzt er dann mit der Hälfte seiner Truppe auf dem Bordstein und ruft allen, die den Saal verlassen ein patziges: "Wasuuuuuup" hinterher.

Die Nerds

Ein trauriger Versuch
Dieser Nerd hat es raus: Alkohol wird ihm helfen, über den Abend zu kommen.

Ein weit verbreitetes Klischee jedes Abiballs sind die dicken, schrulligen Quotensonderlinge, die zwölf Jahre lang von ihren Mitschülern gehänselt wurden und durch Filme wie American Pie mit einem gewissen Sendungsglauben am Abiball festhalten, als den Abend, der ihr Leben durch die Wandlung vom schüchternen Einzelgänger zum unwiderstehlichen Partyhengst nachhaltig verändern wird. Tatsächlich stehen den meisten Nerds dabei schwerwiegende Probleme im Weg, von denen das häufigste ist, dass sie die einzigen Partygänger sind, die es auf dem Abiball mit der Geschlechtertrennung ganz genau nehmen. Meistens stehen sie in einer schlecht ausgeleuchteten Ecke hinter Pfeilern und Tischen und scharren aus Mangel an Gesprächsthemen verschämt mit den Füßen vor sich hin. Wenige Nerds wagen sich nach einer Stärkung aus der Punschschüssel auf die Tanzfläche, nur um festzustellen, dass ihr zurückhaltendes Gewackel ihre Jahrgangsgenossen anwidert oder entsetzt und setzen sich für den Rest des Abends erschöpft auf einen Stuhl, um allein und schnaubend vor sich hinzuschwitzen. So bereitet er sich auf die Studienzeit vor.

Der eine Typ, der die Musik scheiße findet

Gibt es sogar mit schlechtem Musikgeschmack: Typ, der die Musik scheiße findet.

Als wüsste man nicht, worauf man sich musikalisch bei einem Abiball eingelassen hat, bei der die Hälfte der Teilnehmer noch von Bravo, Viva und angsagten Youtubevideos geprägt ist, gibt es auf jedem Ball diesen einen Typen, der die musikalische Untermalung nicht mit seinem Weltbild vereibarnen kann und daher entweder den ganzen Ball über auf der Straße steht und raucht oder der Band/dem DJ andauernd selbst gebrannte Mix-CDs der größten Death Metal-Klassiker zusteckt. Während seine Genossen sich überwunden haben und mit einem glattgestrichenn Gelzopf versuchen, sich am letzten Tag der Schulzeit noch den einen Schwarm zu angeln, den sie unheimlicherweise seit vier Jahren insgeheim anhimmeln, erzählt der Typ,

Wer zur Hölle ist das da rechts im Bild?

der die Musik scheiße findet nur allen, wie gern er von der Feier wieder weg möchte, ist aber meistens fast der letzte, der den Saal verlässt.

Der Unbekannte

Gerade in großen Jahrgangsstufen kann es Leute geben, meist schweigsame Einzelgänger, von denen noch nie ein Mitschüler gehört hat und einige sogar behaupten, sie gehören zu einer anderen Schule. So ein Unbekannter setzt sich während der Veranstaltung zu einem der vielen Abschlussballgrüppchen dazu und lauscht angestrengt und mit freundlichem Gesicht den vielen Schulzeiterinnerungen, an denen er nicht beteiligt war. Er ist auf fast jedem Foto zu sehen, entweder freundlich lächelnd am Rand und im Vorbeigehen, obwohl die meisten bereits Tage später vergessen haben, wer das eigentlich war und was er dort gemacht hat.

Die Ballkönigin

Die Ballkönigin ist besessen von amerikanischen Teeniefilmen und fortwährend damit beschäftigt, das gesamte Ballgeschehen auf sich zu beziehen. Obwohl sie weiß, dass nichts derartiges geplant ist, erwartet sie am Abend eine besondere Hervorhebung als bezaubernde junge Dame und geht wie selbstverständlich davon aus, mit dem Kapitän des Footballteams zusammenzukommen, selbst, wenn die Schule gar kein solches Team hat.

Leiht nur im Brautmodengeschäft: Eine Ballkönigin.

Auf Änderungen und Ungereimtheiten im abendlichen Ablauf reagiert sie gereizt bis hysterisch, wobei ihre nervöse Torschlusspanik sich proprotional mit der Anzahl peinlicher "Selfies" erhöht, zu denen sie ihre ehemalige Klassenkameraden nötigt. Sie hält sich in einer Gruppe von vier bis fünf optisch nicht zu unterscheidenden Mitschülerinnen auf, die sie ihre "Mädels" nennt und versichert sich mit fortwährenden Fragen und Behauptungen, dass dies "ihr Abend" sei, wobei es außerhalb ihrer schwer ergründbaren Weltsicht nicht zu begreifen ist, wie man ein Besitzrecht für einen flüchtigen Zeitabschnitt reklamieren kann. Häufig dient das dem Überspielen ihrer weniger als rosigen Zukunft in einer provinziellen Bankfiliale mit einem 20 Jahre älteren, alkoholkranken Freund zu Hause, der sie in seiner Freizeit gerne schlägt.

Das Flittchen

Ob jung, ob alt, ob Mann, ob Frau...

Das Flittchen nutzt den Tag der letzten Zusammenkunft aller Mitschüler, um ein besonders großes Auswahlschema an Entjungerungskandidaten zu erschließen, mit denen sie mit ihren ungelösten Vaterkomplexen abschließen kann. Sie war schon mit der Hälfte der Jahrgangsstufe zusammen, konnte dadurch jedoch keine Befriedigung erlangen und hat sich deswegen in einem Kleid, das selbst bulgarische Prostituierte als anstößig empfinden würden unter einem zur Tarnung angelegten Mantel aus dem Elternhaus zum Ball geschlichen. Dort angekommen setzt sie sich auf die Knie oder den Schoß derjenigen Mitschüler, die sie für ihre leichte Hingabe ins Auge gefasst hat, um denjenigen alkoholisierten Schmerzbefreiten ausfindig zu machen, der bereit ist, sie nach drei bis vier Tequila hinter den Mülltonnen oder einer nahgelegen Hecke so richtig durchzurammeln, während er sie ganz romantisch Richtung Sternenhimmel dreht.

Der Rebell

Einer oder mehrere Schüler aus der Jahrgangsstufe waren mit der Planung der Abschlussfeier von vornherein nicht einverstanden, entweder weil sie feste Prinzipien hatten oder weil sie der Meinung waren, kritische Haltungen beleben die Debatte.

Der Rebell bei einer seiner intellektuellen Gegenaktionen.

Jedenfalls sind es diese aufmüpfigen Köpfe, die sich von vorherein weigern, am Ballgeschehen und den zugehörigen Gepflogenheiten teilzuhaben, dann aber doch kommen, von vornherein erklärt haben, sie werden keinen Anzug tragen, dann aber doch einen Anzug tragen (mit dem Hinweis darauf, dass das Jacket ein Sportjacket sei, das sie auch alltäglich tragen würden) und bloß niemandem erzählen wollen, dass sie dort waren, dann aber doch eine Kamera bei sich haben, damit andere von ihnen Erinnerungsfotos schießen. Ihre Anwesenheit auf dem Ball begründen sie mit einer Mischung aus der Notwendigkeit einer regelnden Kontrolle und der heimlichen Sabotage der Veranstaltung. Oberflächlich könnte man meinen, dass sich die Rebellen quasi im Interesse der Einsicht eigener Unzulänglichkeit an das Geschehen assimilieren, doch genau besehen, versuchen sie auf ihre subtile und unterschwellige Art, die Veranstaltung von innen heraus langsam zu zersetzen. Sie verhalten sich zwar nicht so provokant, dass sie ernsthaft jemandem auffallen, doch ziehen sie z.B. schon früh ihr Sacko aus und gähnen äußerst provokant, um Fahrt aus dem Ballgeschehen zu nehmen, tippen mutwillig nicht mit dem Fuß im Takt und öffnen heimlich die Balltüren, um das Immunsystem ihrer Mitschüler durch Zugluft zu schwächen. Es sind diese kleinen Nadelstiche, mit der der Rebell sein destruktives Werk an diesem entspannten Abend durchsetzt.

Nach dem Abiball

Per definitionem müssten sich alle Teilnehmer eines Abschlussballs nach der abschließenden Polonaise nie wieder sehen, geschweige denn miteinander sprechen. Was bei einigen gut funktioniert hat aber bei anderen durchaus seine Ausnahmen. Gerade junge dynamische Karrieremacher, die zwei Jahre nach dem Abitur neben ihrer nächsten Bildungsreise nach Hong Kong noch kurz auf Heimaturlaub sind, treffen manch ehemaligen Mitabsolventen in einer befleckten Jogginghose und Plastiktüte von Ed Hardy, wie sie gerade bei Lidl an der Kasse über die Ausweitung ihrer Zigarettenbons vom aktuellen Hartz IV diskutieren. Fängt er an, mit dem interessanten Wesen zu sprechen, das einst sein Klassenkamerad gewesen war, murmelt das nur einige Worte in seinen unrasierten Bart und stiehlt sich unter Selbstgesprächen scheinbar ignorant davon. Solche traurigen Begebenheiten sind keine Einzelfälle. Es ist immer wieder tragisch, wie einige, von ihre Karriere und Aufstieg ganz vernebelt, so in den Bildern ihrer Vergangenheit verhaftet sind, dass sie die spannenden Entwicklungen ihrer ehemaligen Klassenkameraden gar nicht zur Kenntnis nehmen. Doch das rächt sich spätestens auf dem ersten Klassentreffen.

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