Leben und Sterben in Westerreich

Seit der Herrschaft der Sippen- und Sittenpartei wurde der Ständestaat, nach dem Vorbild zahlreicher faschistischer Diktaturen aus dem frühen 20. Jahrhundert, eingeführt. Die regierende Partei hat die gesamte Bevölkerung in Berufsgruppen organisiert, die in der sogenannten Ständeversammlung, auch wenn sie nur eine beratende Fuktion hat, ihre Interessen vor der Regierung vertreten können. Diese Berufsgruppen haben außerdem ein eigenes soziales Netz und erheben neben dem Staat auch noch eigene, zusätzliche Steuern.

Die von der Sippen- und Sittenpartei auf Pump finanzierte Verbesserung der Versorgungslage funktionierte noch in den 50ern und 60ern. Bis heute verkehrte sie inzwischen ins Gegenteil...

Sozialstruktur

Die Sippen- und Sittenpartei teilt die Bevölkerung in folgende soziale Klassen ein:

  • Der Klatschminsky-Clan rangiert ganz oben: Dieser Familie gehört die Sippen- und Sittenpartei. Alle wichtigen Regierungsstellen und Funktionen sind ausschließlich mit den Familienmitgliedern besetzt. Diese bereichern sich hemmungslos an den Steuergeldern. Jeder auf seine eigene Weise. Bei Gelegenheit lassen sie sich auch mit Bestechungsgeldern üppig bezahlen. Es kommt sogar vor, dass sie völlig willkürlich irgendwelche Strafzetteln (meist an die ärmere Bevölkerung oder manchmal auch an den westerreichischen Mittelstand, aber nie an die wirklich reichen Investoren, die man so verscheuchen könnte) verschicken und das Geld dann ebenfalls für sich selbst einsacken. Auch haben die Klatschminskys den Staat vor allem in den Siebzigern und Achzigern extrem verschuldet. Sogar die Kredite des IWF verschwanden schnell in ihren privaten Taschen. Dieses Geld sieht Westerreich meistens nie wieder, denn es wird nicht investiert, sondern ins Ausland transferiert. In illegalen, ausländischen Drogen-, Türsteher-, und Zuhältergeschäften angelegt, verschwinden die Gewinne schließlich irgendwo unter den schweizer Bankkonten oder auf den internationalen Steueroasen, wie Dubai, Liechtenstein, oder im Vatikan. Das Vermögen der Klatschminsky-Familie wird auf vier Milliarden Dollar geschätzt.

Neueren Berichten zufolge verdienen die Klatschminskys inzwischen mehr durch ihre krummen ausländischen Geschäfte, als durch die unmittelbare Ausbeutung ihres eigenen kleinen, armen Landes. Daher haben sich immer mehr Angehörige im Ausland abgesetzt, um sich dort auf Gewinnmaximierung zu konzentrieren. Dadurch hoffen die Westerreicher wenigstens, dass durch diese Abwanderung das Ende der Herrschaft der Klatschminsky-Familie und ihrer Partei kommen möge. Es bleibt abzuwarten...

  • Gleich darunter: Der zweiten Gruppe gehören etwa 1% der Bevölkerung an. Die reichsten Staatsverwalter und größten westerreichischen Unternehmer und Finanziers außerhalb der herrschenden Familie profitieren ebenfalls sehr stark von der Korruption, von Steuerlöchern und der ganzen Vetternwirtschaft und eifern den Klatschminskys nach. So hat die zweitreichste westerreichische Familie, ebenfalls ein Beamten- und Finanzierclan, in den Neunzigern ein Vermögen von etwa einer Milliarde Dollar erreicht. Das meiste von diesem Geld wandert ebenfalls ins Ausland. Jedenfalls wird es sofort in fremder Währung angelegt, da die hohe Inflationsrate der westerreichischen Naturalienwährungen für jeden Sparer untragbar ist, weil alle Naturalien irgendwann halt verfaulen. Andere Leute aus diesem Stand haben irgendeine Schlüsselposition in der westerreichischen Bürokratie, wo die Bestecher nur so Schlange stehen. Als Leiter einer Berufsvertretung kann man zum Beispiel auch direkt die Einnahmen dieser Organisation in die eigene Tasche einkassieren. Widerum andere, die dieser sozialen Klasse angehören, haben ein oder gar mehrere große Unternehmen, etwa das Kick-Sportgeschäft, wo die Westerreicher als billige und willige Lohnsklaven zu Tausenden ihre Arbeit für den Export von Billigwaren verrichten.
  • Deutlich bescheidener, aber immer noch für westerreichische Verhältnisse sehr wohlhabend, lebt der obere Mittelstand (etwa 5% der Bevölkerung) mit mittelgroßen Unternehmen oder als hochqualifizierte Manager. Auch erfolgreiche, größere Spekulanten gehören in diese Gruppe, deren Lebensstandard ungefähr dem eines durchschnittlichen deutschen Arbeitnehmers entspricht.
  • Weiter unten gibt es den unteren Mittelstand (etwa 10% der Bevölkerung). Die sind meistens beruflich selbstständig, haben ein kleines Unternehmen, sind als hochqualifizierte Facharbeiter angestellt oder gehören einer Großbauern- oder einer reicheren Hirtenfamilie an, die große Weide- und Ackerflächen besitzt. Sie leben zumeist in Wohnungen der alten Plattenbauten aus der Zeit der Diktatur Titanins. Diese Wohnungen wurden bis 1950 errichtet und haben für heutige deutsche Verhältnisse einen mieserablen Standard. Trotzdem haben sie einen Strom-, Wasser- und Kanalisationsanschluss. Allerdings keinen Bad, keine Dusche, kein Warmwasser und keine Heizung. Auf dem Land lebt der untere Mittelstand Westerreichs in kleinen, aber verhältnissmässig gemütlichen Ziegelhäusern mit ihren Familien.
  • Noch weiter unten stösst man auf die Massen, die etwa 75% der Bevölkerung ausmachen: Die traditionellen Bauern und Arbeiter. Am Land leben sie in kleinen Holzhütten mit Strohdächern, aber ohne Glasfenster. In den Städten leben sie in Baracken, die aus Holz, oder Stein errichtet wurden und müssen dort oft sogar einzelne Räume mit anderen Familien teilen. Wenn es überhaupt einen Stromanschluss gibt, dann sorgen die häufigen Stromausfälle für reichlich Frust. An den Feiertagen wird der Strom gänzlich abgeschaltet. Wer Glück hat, oder sogar eigenes Geld in die Hände bekommt, der kann sich ein altes, großes Kofferradio ergattern, um sich hin und wieder das monotone und sporadische Programm des staatlichen Senders anhören zu können. Es besteht zu 80% aus Propaganda der Sippen- und Sittenpartei, zu 10% aus alltäglichen Binsenweisheiten, die keiner hören will, zu 7% aus uralten Marienliedern und Kirchenchor, zu 2% aus uralter klassicher Musik und zu 1% aus ein paar alten Schlagern aus den Siebzigern, welche, wenn sie überhaupt laufen, immer und immer wieder wiederhollt werden. Wer noch mehr Glück hat, der lebt als Untermieter der moderneren Plattenbauten aus der Titanin-Ära. Heute breitet sich der Analphabetismus unter den Massen des westerreichichen Volkes, wie ein Flächenbrand aus. Diese Bevölkerungsschicht muss Hunger leiden und unverhältnissmässig viel Geld für die elementarsten Grundbedürfnisse ausgeben, welches bis zur nächsten Gehaltsauszahlung (die faktisch nur in Naturalien ausgezahlt, manchmal auch gar nicht stattfindet und oft "vergessen" wird) meistens nicht ausreicht. Wer der Sippen- und Sittenpartei oder sonst einem priviligiertem Club angehört, der darf zwar einige Waren deutlich billiger kaufen, muss aber dafür stundenlange Warteschlangen für ein Stück Brot oder für einen Sack Kartoffeln hinnehmen. Die Bauern versorgen sich mit mehr oder weniger Erfolg selbst, sind aber auf das Wetter stark angewiesen. In manchen Jahren mit reicher Ernte verkaufen sie massenweise Nahrungsmittel zu billigeren Preisen. In den meisten Jahren jedoch stehen die Märkte ziemlich leer da und in den Städten breitet sich der Hunger aus. Da es in Westerreich de facto kein Geld gibt, dominiert der Tauschhandel. Hierbei haben sich Getreidekörner als bevorzugte Währung etabliert. Selterner auch alte Münzen aus der Titanin-Ära, die aber offiziel keine Geltung mehr haben.
  • Schließlich gibt es noch eine Unterschicht, die 5% der Bevölkerung ausmacht. Es handelt sich um Arbeitslose, Obdachlose, Behinderte, Witwen, Waisen und alle, die sonst irgendwie in Not geraten sind. Diese Schicht wird von den sozialen Netzen Westerreichs versorgt. Eine solche Versorgung besteht täglich aus einem halben Liter wässriger Mehlsuppe mit Kartoffelschalen. Alles andere, was diese Menschen noch bekommen, sind bestenfalls Essensreste und zwar in einem solchen Zustand, dass man sie in vielen anderen Ländern nicht einmal als Tierfutter verwenden würde. Da diese Menschen sehr wenig zu Essen bekommen, werden ihnen diese "Speisen" mit Wasser "gestreckt" und mit Blättern oder Grashalmen "gewürzt". Zum Geburtstag bekommen sie noch zusätzlich einen "Kuchen", der aus Maisstroh gemacht wurde und keinerlei Nährwert besitzt.
  • Neben der sozial registrierten und "versorgten" Unterschicht, gibt es noch die sogenannten "Ausgesteuerten" oder "Namenlosen", die weitere 4 Prozent ausmachen. Das sind Leute, die aus irgendwelchen vorschriftsmässigen Nichtigkeiten, oder auch wegen ihrer politischen Gegnerschaft zur Sippen- und Sittenpartei jede soziale Unterstützung verwirkt haben und auf ihren Tod warten.

Der Alltag der sozialen Schichten

Der Reporter Dieter Bohlen interviewt verschiedene Menschen in Westerreich, das Land, welches mitten im Wohlstandsgebiet Westeuropas ein riesiges, schandhaftes Armutsloch reißt. Eine andere Welt, welche sich die meiste Zeit durch Isolation vom jeden Fortschritt abgeschirmt hat und trotzdem nicht von Kriegen und Verwüstungen verschont blieb. Schon immer war dieses Land sehr rückständig. Seit der industriellen Revolution in den Nachbarstaaten hinkte das Land noch hoffnungsloser hinterher. Eine Einreise ist recht problematisch. Ganze Regionen, wie etwa Goschau, dürfen nicht betreten werden. Der Rheintal ist zwar offiziel für Touristen offen. Aber die dortige Mafia regiert dort mit ihren eigenen Gesetzen. Daher fährt unser Reporter zuerst einmal in die Hauptstadt Wein. Der fröhliche Dieter fragt die Einwohner nach Wegen und versucht sie in ein Gespräch zu verwickeln. Aber Fehlanzeige! Die Leute umhüllt ein unheimliches Schweigen. Sie haben Angst vor Repressalien. Doch vielleicht mögen sie einfach nur den Dieter nicht.

Die Würstchenbude

Wein ist eine sehr verfallene Stadt. Dunkelgrau ist die eindeutig dominante Farbe. Die wenigen Menschen auf den Straßen lachen nicht und gehen leise ihren Weg zur Arbeit. Die Reise geht weiter in die Innenstadt, wo es noch am lebendigsten ist. Hier findet sich noch hin und wieder eine Bar und vielleicht sogar ein Kinderspielplatz. In den schmalen Gassen steht schließlich eine winzige Holtzbude. Darüber schwebt eine große Rauchwolke. Ein junger Mann hockt drinnen und stellt Preisschilder aus. Ein Kessel auf einem alten, rostigen und löchrigen Feueroffen brodelt wild. Offenbar wartet er auf Kunden.

  • Bohlen: "Hahaha, sie sehen richtig depremiert aus, mein Freund. Wie laufen so die Geschäfte?"
  • Verkäufer: "In den letzten Jahren immer schlechter..."
  • Bohlen: "Warum?"
  • Verkäufer: "Wissen Sie? Die Armen werden immer ärmer und können sich nicht einmal mehr den staatlichen Kantinenfrass leisten, während die wenigen Reichen nicht bei mir, sondern irgendwo in ausländischen Supermärkten einkaufen!"
  • Bohlen: "Dann setzen Sie doch die Preise rauf... eh... ähm... ich meine, runter!"
  • Verkäufer: "Ich habe sie schon mehrmals überarbeitet und ich weis wirklich nicht, wie ich ein günstigeres Angebot schaffen soll, ohne dabei selber Verluste zu machen. Die Besitzer von Würstchenbuden verlangen immer mehr Miete von mir und anderen Verkäufern, weil es an Immobilien sehr mangelt. Das liegt an den sinnlosen Bauvorschriften, die einem Bauverbot, für einfache Hütten in den Städten gleichkommen. Die Baubranche liegt am Boden. Die Mietpreise klettern in den Himmel. Gleichzeitig werden die Lieferungen an Nahrungsmitteln ebenfalls immer teurer."
  • Bohlen: "Was verkaufen Sie hier?"
  • Verkäufer: "Schnitzel, Bohnensuppe, Bratwurst, Pizza... Ich habe frische Semmeln, Brote und mache auch Hot Dogs und Burger."
  • Bohlen: "Wieviel verdienen Sie?"
  • Verkäufer: "Wohl viel weniger, als Sie! Früher hatte man aber wenigstens noch Chancen. Ich habe schon immer hart gearbeitet, wissen Sie? Zwölf Stunden am Tag stehe ich hier Montag bis Samstag ganz alleine ohne Pause und den ganzen Sonntag, wo man gar nicht arbeiten darf, gehe ich durch die Dörfer und schaue, wie ich noch halbwegs günstig bei den Bauern für mein Geschäft einkaufe. In den frühen Morgenstunden, bevor ich mein Geschäft betrete, muss ich noch stundenlang zu Hause das Essen vorbereiten. An Freizeit ist nicht zu denken. Früher hat sich das noch gelohnt. Da habe ich gutes Essen für mich selbst gehabt und konnte mir eine eigene, saubere und trockene Wohnung leisten. Heute verdiene ich kaum mehr, als ein ganz normaler Arbeiter, der hungern und frieren muss."
  • Bohlen: "Haben Sie keine Hilfskräfte angestellt?"
  • Verkäufer: "Die kann ich unmöglich bezahlen. Mein Nachteil aber ist, dass ich alleinstehend bin. Andere haben Familien und können Kinder ohne Lohn arbeiten lassen. Als Alleinstehender muss man auch viel höhere Steuern zahlen. Überhaupt bleibt die ganze Steuerlast an den Armen hängen."
  • Bohlen: "Ist es nicht gefährlich, soetwas zu sagen?"
  • Verkäufer: "Oops. Schon. Hoffentlich sind Sie kein Spitzel..."

Das Gewerbeviertel

Da es in Westerreich so gut, wie keine Industrie gibt und die letzten Industriegebäude in den letzten Jahrzehnten endgültig verfielen, wurden viele Arbeitsplätze im Gewerbebereich geschaffen. Dort gibt es keine Massenproduktion und alles wird von Hand gefertigt. Das spart die Maschinen ein und gibt vielen Menschen Arbeit, dachte jedenfalls die Sippen- und Sittenpartei. Daher wurde im Laufe ihrer Herrschaft eine systematische Demontage der Industriebetriebe durchgeführt.

Unser Reporter Bohlen wandert nun in den Gewerbeviertel der Stadt. Unterwegs wird er von fünf Straßenkindern überfallen, die aber nichts bei ihm fanden, womit sie sich ausgekannt hätten. Eine Stunde später stösst unser Held schließlich auf den Weinfluss, welcher die Grenze zum Gewerbeviertel markiert. Die Brücken über diesem Gewässer sind entweder eingestürtzt, oder akut einsturtzgefährdet. Ein paar Holzbretter führen dennoch auf die andere Seite. Ein paar Männer nutzen diese, um große Steinbrocken über den Fluss zu schleppen. Wie immer, will es der Reporter stets genaustens wissen. Doch die Einwohner schweigen zu Bohlens Anfragen. Einer bedroht ihn. Also sieht sich Bohlen gezwungen, an einer anderen Stelle den Fluss zu durchwatten.

Auf der anderen Seite angekommen, findet sich die Antwort auf seine Fragen. Ein Haus ist teilweise eingestürtzt und die Familie arbeitet intensivst daran, es wieder in Schuss zu bringen. Kinder sägen eilig Bretter. Die Frauen stützen die hängenden Bauteile provisorisch mit Steinen und Balken ab. Offensichtlich ist die Familie nicht versichert und nur die Reichsten können sich soetwas leisten.

Eine weitere Stunde des Marsches zu Fuß kommt Bohlen schließlich bei den Sweetshops an. Durch die Fenster blickend sieht er Kinder, die konzentriert mit reiner Handarbeit Kleider nähen. Bohlen klopft an die Tür: "Überraschung! Ich mache euch alle zu Popstars! Wollt ihr nicht auch reich und schön werden? Hallo! Hallo!", woran natürlich selbst unter den westerreichischen Analphabeten keiner glaubt, weil selbst hier keiner so naiv ist um sich bei einer castingshow anzumelden.

Trotzdem öffnet eine Frau die Türe: "Was machen Sie für einen Lärm!? Gehen Sie! Jetzt! Wenn der Boss kommt, dann gibt es Probleme!"

  • Bohlen: "Ich bin von der Gewerkschaft und möchte einen Bericht über die Zustände hier verfassen."
  • Frau: "Was ist eine Gewerkschaft?"
  • Bohlen: "Eine Organisation, die will, dass es Ihnen besser geht."
  • Frau: "Mir geht es aber prächtig!"
  • Bohlen: "Arbeiten Sie hier schon lange?"
  • Frau: "Viel zu lange. Diesen Job wollte ich nur kurzfristig haben, um einen Besseren zu finden. Aber es findet sich nichts."
  • Bohlen: "Warum wollen Sie diesen Job nur kurzfristig haben?"
  • Frau: "Ich glaube, meine Hände halten das alles nicht mehr durch. Besonders, wenn ich den groben Stoff auswasche, tut alles weh. Dann muss ich filtzen, färben, trocknen, spinnen, stricken und nähen. Dabei brennen die Finger und ich habe von der stumpfen Nadel viele Stichwunden. Am Ende des Tages werde ich zusammen mit den Mädchen auf den Markt geschickt, um zu verkaufen. Der Aufseher brüllt herum, schlägt uns und bezahlt oft gar keinen Lohn und wenn, dann gibt er uns nur ein Stück Brot und stinkendes Wasser. Seit meiner Kindheit habe ich keine Geldmünze mehr in der Hand gehalten."
  • Bohlen: "Haben Sie sich bei Ihrer Berufsgruppe, oder Berufsvertretung erkundigt?"
  • Frau: "Wenn ich das mache, dann lande ich sofort auf der Straße. In meinem vorigen Job kam noch manchmal ein Vertreter vorbei. Aber jetzt haben wir niemanden. Wir kennen auch nicht den Besitzer des Unternehmens. Bei Beschwerden gibt es nur Schläge und Drohungen."
  • Bohlen: "Waren Sie früher reicher?"
  • Frau: "Früher hatten meine Eltern noch eine gute Arbeit und ein Haus mit Garten. Da konnten wir Gemüse anbauen. Auf dem Markt war damals alles billiger, als heute. Da konnten wir noch leben und manchmal, wenn ich ganz brav war, gab es sogar ein kleines Stück Schokolade für meine Geschwister und mich. Später starb mein Vater. Seitdem mussten wir unser Haus verkaufen und uns in Arbeitshäusern verdingen. Hier wird nur gearbeitet, bis man zugrunde gerichtet ist und dann bist du auf der Straße und verhungerst. Ich weis selber nicht. Aber ich fühle, dass der Augenblick schon naht, wo meine Seele erlöst wird."
  • Bohlen: "Möchten Sie nicht überleben?"
  • Frau: "Wie soll ich überleben, wenn ich auf der Straße bin und nichts habe. Keiner hilft dir. Auch nicht die Reichen, die eine Bar oder einen Wurststand betreiben."
  • Bohlen: "Was ist mit den Reichen, die ganze Sweetshopketten oder vielleicht sogar ganz Westerreich besitzen?"
  • Frau: "Über sie darf man nicht reden. Vorsicht! Der Aufseh..."

Nachdem unser Dieter und die Sweetshop-Arbeiterin von zwei Muskelprotzen verprügelt werden, geht die Wanderung weiter. Bald stösst man auf die Grenzen der Stadt. Aber es wird langsam dunkel und kalt. Sowohl in den Städten, als auch am Land stehen zwar noch viele der alten Neon-Straßenlaternen aus der Titanin-Ära, aber keine von ihnen leuchtet mehr, weil die Sippen- und Sittenpartei vor ein paar Jahren beschlossen hat, keine Neonröhren mehr auswechseln zu lassen - aus finanziellen Gründen. Eine öffentliche Beleuchtung gibt es nicht mehr. Nur einzelne Häuser haben noch leuchtende Fenster. Also macht sich unser Reporter auf zu einer Pension. Tatsächlich findet sich nach langer Suche ein solches Haus. Hier schlafen meist reisende Geschäftsleute des westerreichischen Mittelstandes und gelegentlich auch ein paar Touristen aus Osteuropa. Nur selten verwirrt sich ein Bürger der Bundesrepublik Deutschland in dieser Einöde.

Die Übernachtung

Die Pension gleicht eher einer Militärkaserne oder einem Obdachlosenheim. Es ist ein längliches Haus aus dicken Steinwänden gebaut. Die Wirtin führt unseren Bohlen entlang einer Flur, wo alle Zimmer in Reih und Glied nebeneinander angeordnet sind. Dieter fragt nach einem Zimmer für sich alleine. Doch es ist keines mehr frei. Also muss der an Luxus gewohnte Reporter das Schicksal der anderen Kunden dieser Unterkunft teilen und in einem Zimmer mit Stockbetten und vielen anderen Gästen schlafen.

Die Bettwäsche riecht grauenhaft nach Schweiß. Im Zimmer herrscht klirrende Kälte und die Decke ist viel zu klein und dünn. In der Nacht summt hin und wieder eine Mücke an Dieters Ohr vorbei. Das laute Schnarchen der Bettnachbarn ist für unseren Star auch sehr lästig. Noch schlimmer wird es, als Bohlen doch noch beschließt, auf die Toilette zu gehen. Es gibt nämlich keine im ganzen Haus. Nur draußen im Hof steht eine Hütte mit einem Plumpsklo, voller Dreck und voller Spinnen.

Am nächsten Morgen wird Bohlen erneut unangenehm überrascht. Als er die Gastgeberin nach einem Bad fragt, bekommt er nur eine kleine Waschschüssel in die Hand und eine Wegbeschreibung zum nächsten Brunnen. Am Brunnen angekommen, muss das Wasser mühsam hochgezogen werden. Das kalte Bad ohne Seife entspricht ebenfalls nicht seinen Gewohnheiten. Wütend über den Service und den unverhältniss hohen Preis für die Übernachtung, zieht er weiter aufs Land hinaus.

Auf dem Lande

Zwar sind viele Straßen früher befestigt worden, doch keiner kümmert sich mehr um die Instandhaltung der Infrastruktur und so zerbricht der Asphalt und die Betonplatten sind schon zum großen Teil mit Schlamm überdeckt worden. Sogar die größeren Straßen sind uneben und mit Pflanzenwuchs behaftet. Weit und breit sind keine Autos oder Busse zu sehen und während der ganzen mehrstündigen Wanderung fahren lediglich zwei Lastwegen an Dieter vorbei, die allerdings mit Menschen überfüllt sind. Die Menschen bewegen sich statt dessen mit Pferden, Eseln und Ochsen fort und sitzen dabei in einfachen Holzkarren auf einem Haufen Stroh oder Heu. Häufig stösst man auch auf Windmühlen.

Dieter biegt von der Straße ab und geht nun einen Bach entlang bis an das Ende der Ebene. Dort beginnt ein ziemlich hoher Wasserfall, welcher dann ganz unten ein Wasserrad bewegt, wo auch ein Wald anfängt. Offenbar ist diese Mühle verlassen worden. Ein Stück weiter den Bach hinunter findet sich eine kleine, alte Hütte. Als Bohlen sich dieser nähert, hört er plötzlich ein Seil reißen und ein Hund läuft lautlos auf ihn los. Was dann war, weis er selber nicht mehr.

Als er zur Besinnung kommt, befindet er sich in dieser alten Hütte und liegt im Heu auf dem Boden. Sein Kopf tut weh. Noch mehr aber sein Bein, wo er gebissen wurde. Ein alter Mann lächelt ihn an und bittet um Verzeihung, wegen dem Vorfall mit dem Hund. Der Köter sei jetzt aber mit doppeltem Knoten an seinen Pfahl gebunden, beteuert er. Nach einer Suppe und ein paar Scheiben Brot erzählt der Greis dem Reporter seine Geschichte.

  • Alter Mann: "Diese Hütte ist schon mehr als 50 Jahre alt und hat immer noch keinen Strom und keinen Ofen. Trotzdem bin ich hier gerne. Die Polizei ist hier noch nie gewesen und der Wald rundherum ist von den Weltkriegen und von sonstigen Unruhen völlig unversehrt geblieben."
  • Bohlen: "Haben Sie diese Hütte gebaut?"
  • Alter Mann: "Zehn Jahre lang! Ganze zehn Jahre! Es fand sich einfach viel zu wenig Zeit dafür. Egal, wer hier regiert. Man muss sein Leben lang nur schuften. Schuften für nichts!"
  • Bohlen: "Und wovon leben Sie heute?"
  • Alter Mann: "1970 bin ich ins Ausland geflohen. Das war schon damals fast unmöglich, aber die Grenzen sind viel zu lang, um sie lückenlos überwachen zu können. Im Ausland habe ich viel gearbeitet, Karriere gemacht. Heute habe ich genug Geld, um wenigstens meinen Lebensabend hier an diesem schönen Ort öfter zu verbringen."
  • Bohlen: "Wie wird es mit Westerreich weitergehen?"
  • Alter Mann: "Das Land wird an seinen eigenen Schulden ersticken. Die Regierung fährt einen harten Sparkurs, welcher auf der ohnehin sehr verarmten Bevölkerung schwer lastet, doch die Schuldenlast und die Zinsen sind inzwischen zu hoch, um sich mit eigener Kraft aus dieser Sache zu befreien. Aber das wird die Regierung nicht davon abhalten, sich mit brutalen Methoden weiterhin an der Macht zu halten. Schulden alleine haben eine Diktatur noch nie zu Fall gebracht. Wahrscheinlich wird Westerreich seine Zahlungsunfähigkeit erklären und einen Schuldenerlass bekommen. Dann fängt dieses Spiel wieder von vorne an, denn die Klatschminskys stopfen sich ihre bodenlosen Geldtaschen ohne Gewissen."
  • Bohlen: "Gibt es eine Aussicht auf eine Verbesserung des Lebens der Bevölkerung?"
  • Alter Mann: "Nur, wenn die Sippen- und Sittenpartei gestürtzt wird. Amsonsten wird es nur immer schlechter. Zur Zeit der Weiner Republik war unser Land schuldenfrei. Heute stehen wir vor einem gigantischen Schuldenberg. Hätten Sie sich die Stadt Wein noch vor 50, oder 55 Jahren angeschaut. Alles war gut beleuchtet. In ganz Westerreich strahlten die Neonröhren hoch in den Himmel. Heute ist es stockfinster. Oder das Industrialisierungsprogramm, welches bis zum Sturtz Titanins auf vollen Touren lief. Die heutige Regierung demontiert nun dieselben Industrieanlagen und verkauft sie zu Dumpingpreisen, um überhaupt noch an Devisen zu gelangen. Oder die Eisenbahn. Das dichte, stark befahrene Schienennetz aus den Dreißigern, Vierzigern und frühen Fünfzigern hat sich bis heute auf ein Minimum reduziert und verrotet."
  • Bohlen: "Wollen Sie damit sagen, dass der Diktator Titanin besser war?"
  • Alter Mann: "Auch unter Titanin ging es den Menschen sehr schlecht und viele starben an Hunger und Kälte oder an den unmenschlichen Bedingungen der Gulags. Aber damals gab es einen Fortschritt, welchen jeder spüren konnte. Die Industrie wurde aufgebaut, Bergwerke wurden errichtet, die Bildung wurde für die gesamte Bevölkerung zugänglich. Das machte damals noch einen Sinn, während die heutige Bevölkerung vor allem für die Bereicherung des Klatschminsky-Clans leiden muss und sogar im Alltag Nichts, als einen stetigen Rückschritt zu sehen bekommt."

Der mieserable Lebensstandard der Westerreicher macht sich jedenfalls auch an der extremen Beschaffenheit des Essens und der Hygienebedingungen bemerkbar. Dieter Bohlen muss während seiner Westerreich-Tour mehrmals erbrechen. In Deutschland angekommen hat er sich umgehend einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Es stellt sich heraus, dass er gleich mehrere Krankheiten aus Westerreich mitschleppt. Neben Tollwut, Malaria, Gelbsucht, Körpergeruch und Kariers hat er gleich zwei Arten von Bandwürmern im Darm. Er braucht drei Monate im Krankenhaus, um das auszukurieren. Trotzdem hält er Westerreich stets für eine Reise wert.

Titanin

Westerreich

Ein Land. Eine Katastrophe. Eine Geschichte. Drei Regimes.

Geschichte und die drei Regimes Titanins Regierungsmitglieder
Westerreichische Fahne (seit 1965)
Sonstiges
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