Diverses:Rigolettos letzter Auftritt

Bett im Hotel Imperial. Rigoletto fehlt im Bild, da er es selbst aufnehmen musste.

An einem schwülen Maiabend, der das Joch des nahenden Sommers erahnen ließ, lag der Clown Rigoletto in einem Zimmer des Wiener Hotels Imperial und starrte an die Decke. Er tat dies aus reiner Langeweile, denn eigentlich hätte er schon vor Stunden sterben sollen, weshalb er davon abgesehen hatte, Pläne für diesen Abend zu schmieden. Rückblickend musste er sich eingestehen, dass es naiv gewesen war, dem Liefertermin des Packdienstes Glauben zu schenken, aber wer konnte es ihm verdenken, dass er sich wenige Stunden vor seinem Tode der Illusion hingab, seinen Mitmenschen vertrauen zu können.

Darüber hinaus hegte Rigoletto in dieser Angelegenheit keinen Groll, wenngleich sein Herz aus anderen, tragischeren Gründen dermaßen von Gram zerfressen war, dass sein Gehirn es kein Blut mehr pumpen lassen wollte, aber zumindest grämte er sich nicht wegen des ausgebliebenen Pakets, sondern hatte überdies sogar Verständnis für die nicht erfolgte Zustellung, denn wer, wenn nicht ein suizidaler Clown, dessen sprühender Witz ein Raub von Fortunas Grausamkeit geworden war, konnte verstehen, dass man seinem Leben aus freien Stücken ein Ende setzte, auch wenn man als Fahrer eines Zustelldienste Pakete auszuliefern hatte.

Mit voyeuristischer Neugier versuchte er die letzten Augenblicke des Dahingeschiedenen zu ergründen, imaginierte mit bittersüßem Neid und erregender Vorfreude mögliche Arten des Sterbens, fand vertreten durch den unbekannten Geistesbruder in verschiedensten Scenarien die ersehnte Erlösung. Hatte sich der Bote in einer Schlinge aus Paketband erhängt, sich solange braunes Klebeband um den Kopf gewickelt, bis er erstickte? Handelte es sich am Ende gar um einen unglücklichen Unfall? War er auf einer hügeligen Strecken vielleicht ohne die Handbremse anzuziehen aus dem Auto gestiegen und dann von diesem überrollt worden? Mit großer Begeisterung spann Rigoletto verschiedene Geschichten aus dem gleichen Stoff, die nur vordergründig versuchten die Wahrheit zu enthüllen, starb im Körper eines Fremden tausend Tode, um im eigenen Geiste die Illusion der Auf- und Erlösung zu erfahren.

Besonderen Gefallen fand der Clown an einem Scenario, in dem der bis dahin glückliche Paketbote durch Zufall, nachdem die Kartonage durch den Inhalt einer zerborstenen Whiskyflasche aufgeweicht unter dem Gewicht anderer Sendungen zerbrochen war, die Schmerzmittel, welche den zehrenden Pein des Bajazzos in umschlingender Dunkelheit ersticken sollten, fand und nach kurzer, aber inniger Reflexion die Qualen menschlicher Existenz erkennend seinem neuentdeckten Elend ein rasches Ende setzte. Rigoletto erheiterte sich über die Ironie, dass just die Pillen, welche ihm Frieden schenken sollen, ihm diesen nun zu verwehren schienen. Überdies hatte er, zumindest lautete so sein Urteil, dem Auslieferer lustige letzte Worte, nämlich, dass das Medikament nach Thunfisch schmecke, in den Mund gelegt, was ihn ob der Absurdität der imaginierten Scene so sehr amüsierte, dass er, wenngleich er nicht wirklich lachte, zumindest mehr Luft als üblich durch die Nase ausstieß.

Je länger sich die Phantasterei hinzog, um so wandlungsfähiger wurden die Bilder, bis der Paketbote im Bett des Wiener Hotels Imperial lag, ehe er auf verschiedensten Wegen den erlösenden Tod entdeckte. Rigoletto seufzte, stand auf und ließ seinen Blick durch das leere Zimmer schweifen. Er sah sich tot am Boden liegen, leblos über den Sessel hängen, ohne Regung oder Rührung stumm und still im Bette ruhen. Sogar in grotesker Position am kleinen Rundtischerl kniend fand der entseelte Körper in Gedanken Platz.

Während der Clown seine Leiche im Geiste wie einen ordinären Dekorationsgegenstand auf verschiedenste Möbelstückte stellte, erwuchs in ihm die Frage, wie man wohl auf seinen Tod reagieren werde. Es gab keine Familie, keine Freunde, die diesen betrauern oder zumindest mit hypokritischem Gestus beweinen könnten, ja nicht einmal der Herrgott im Himmel schienn Anteil an seinem Schicksal zu nehmen, sodass wohl das bedauerliche Zimmermädchen, vielleicht durch ein plötzliches, opernhaftes Aufwallen von Panik, vielleicht durch eine widersprüchliche Melange aus Ekel und ehrlichem Mitleid, am stärksten vom Dahinscheiden des Bajazzos getroffen wäre, gefolgt von einem Angestellten in leitender Position, der sich, vermutlich eher vom Zorn erregt, als durch Trauer berührt, mit der Entsorgung des Leichnams beschäftige müsste.

Gerne hätte Rigoletto, um der Drastik seines Todes durch leichten Klamauk die Schärfe zu nehmen, etwas Lustiges wie »Da lieg ich nun, ich armer Tor und bin so tot wie nie zuvor« oder »ach, armer Yorick Rigoletto« an die Wand geschrieben, doch die blaue, mit silbernen Ornamenten ornierte Seidentapete schien zu kostbar, als dass sie für einen mäßigen Witz verunstaltet werden dürfte.

Auch bei zwei Waschbecken blieb das Problem das gleiche

Außerdem zweifelte er nicht daran, dass Zeitungen der innewohnenden Komik seines Freitodes erlägen und diese Aufgabe übernähmen. Man würde titeln: »Kein Scherz: Starclown Rigoletto tot« oder »Gar nicht lustig. Berühmter Clown Rigoletto beging Suizid«. Des Bajazzos liebste Schlagzeile lautete jedoch: »Seine Witze waren zum Totlachen. Sein Leben leider auch. Entertainer Rigoletto wählte den Freitod.«

Letztendlich war es einerlei. Als Toter konnten ihn weder Schmerz noch Zeitungsartikel erreichen. Nur kurz und ohne Nachwirkung wurde die Welt von seinem Ableben Notiz nehmen und sich dann unverändert weiterdrehen. Selbst der Raum, in dem er lag, hatte keinen Wandel zu fürchten und wohl schon öfter den Tod während seines stillen Geschäfts beherbergt. Nur die Matratze würde ihm vermutlich folgen und alle irdische Existenz aufgeben müssen, erschien es doch unwahrscheinlich, dass ein Mann, klar von Verstande, simpel im Wesen, bereitwillig das Totenbett eines Fremden als eigenes Ruhelager wählen würde.

Alles Phantasterei und Illusion solange der Clown mit pochendem Herzen und kummervollen Gemüt im Bette lag, dem Tode in Gedanken Tür und Tor öffnete, während das Leben partout nicht aus der Brust weichen wollte, sich dort wie ein lästiger Reizhusten, den man sich so leicht an feuchten Wintertagen einfängt und trotz aller Säfte und Kuren erst wieder im Frühling loswird, festsetzte. Nur, wie sollte die ewige Finsternis hereinbrechen, wenn der Tod, welcher die Tore hätte öffnen sollen, schon den Chauffeur als Ziel auserwählt hatte? Was war zu tun, nachdem aus dem Boten ein Dieb geworden war? Dringliche Fragen, auf die der Clown keine Antwort hatte.

Er ließ seinen Blick durch das Zimmer gleiten, rätselte, wie viele Kollisionen mit der Tischplatte sein Schädel wohl aushielte, bis er brach, sinnierte, ob man an einem verschluckten Telefonhörer ersticken könne, grübelte, welche Tötungsmöglichkeiten ein Sessel offerierte. Er zog sogar in Betracht, aufzustehen und ins Bad zu gehen, damit er sich im Waschbecken ersäufen konnte, was er aber bleiben ließ, da er wohl im Zustande der Ohnmacht zu Boden stürzen würde, leider ohne sich dabei durch eine Konfrontation mit der Badewannenkante das Genick zu brechen.

Mit fortschreitendes Zeit wuchsen Ratlosigkeit und Verzweiflung zu solcher Größe an, dass Rigoletto sich aus dem Bette erhob, das Fenster öffnete und den Tauben am Dach zuschrie, ihr Werk endlich zu vollenden, hatte seine geliebte Frau Charlotte doch in einem durch einen dieser Vögel verursachten Mopedunfall ihr Leben gelassen, aber keines der Tiere erbarmte sich des Bajazzos, indem es in seinen Rachen flog oder die Halsschlager mit dem Schnabel zerriss, sondern sie alle blieben dümmlich gurrend auf dem Dache sitzen. Der Clown zog sogar in Erwägung, da er ehedem im Fernsehen aufgeschnappt hatte, dass der Stoff dadurch nahezu unzerreißbar wurde, auf die schwarze Seidenkrawatte, die er trug, zu urinieren, brachte es aber nicht übers Herz, ein Geschenk seiner teuren Lotte auf diese Art zu entweihen.

Zu leben war schwer, zu sterben aber anscheinend noch schwerer. Erschöpft ließ sich der Bajazzo ins Bett fallen, drückte sein Gesicht in den Polster, willig seinen letzten Lebenshauch in den Baumwollbezug zu hauchen, doch er atmete weiter. Unbedeutend wie tief er in dieses weiße Meer tauchte, er atmete weite. Auch als er die Luft anhielt; nach einer Pause von zwei Minuten atmete er weite. Die Zeit schritt voran und so tat es auch das Leben des Clowns. Rigoletto lag bewegungslos im Bett, den Kopf im Polster versunken, doch seine Gedanken befreiten sich immer öfter aus ihrem Gefängnis der Trivialität und es dauerte nicht lange, bis der Baumwollbezug, welche sich über das Gesicht spannte, bittersüße Reminiszenzen weckte:

Schon einmal war er so im Bette gelegen, ohne Freude, aber mit viel Kummer im Leib, weil sein Leben – damals aus finanziellen Gründen – in Trümmern lag, als eine helle, leicht verschleierte Stimme Frauenstimme, deren Intonation durch den Alkohol etwas unsicher war, zu ihm sprach und kaum hatten die ersten Worte sein Ohr erreicht, spürte er wie zarte Finger seinen Rücken liebkosten. Wie an jenem tröstlichen Abend wandte sich Rigoletto nun im Bette des Hotels Imperial liegend um, doch keine jadegrünen Augen blickten ihn an, keine schmalen, weichen Lippen strichen sanft über Wangen. Stattdessen starrte die weiße Decke zurück. Nur feuchte Tränen benetzten seine Wangen.

Er nahm den Polster, der an seiner rechten Seite lag, hob ihn hoch und platzierte ihn auf seiner Brust. Verträumt, ohne seinen Blick von der Decke zu nehmen, strich er liebevoll über den weißen Baumwollbezug, imaginierte, dass seine Fingerkuppen Charlottes zarte Haut berührten, glaubte den süßen Duft ihres Rosenparfums in der Nase spüren zu können, redete sich ein, dass das leichte Gewicht auf seiner Brust der Kopf derer sei, die er immer noch liebte, die ihm so schändlich genommen worden war. Unzählige Abende hatte Charlotte so an seiner Seite gelegen, den Kopf auf der Brust, die Hände mit den Haaren, die auf seinem Bauch wuchsen, spielend.

Das ist zwar nicht Charlotte, sondern Carole Lombard, aber die ehrenwerte Actrice ist ebenfalls blond und vor kurzem aus dem Leben geschieden.

Sie erzählte bei diesen Gelegenheiten gerne und umfangreich von ihren alltäglichen Erlebnissen, berichtete von Vorkommnissen auf der Straße, schilderte die kleinen Probleme und Freuden von nahen Bekannten und Freunden, sprach dabei aber immer mit ehrlicher Begeisterung und großer Anteilnahme, sodass das Mitgeteilte nie trivial oder langweilig erschien, obschon er es in verwandter Form einige Male vernommen hatte. Bisweilen, nach entbehrungsreichen Stunden oder Tagen der Trennung, lauscht er dem tröstenden Klang ihrer Stimme, ohne den gesprochenen Worten allzu große Beachtung zu schenken, erfreute sich am vertrauen Gewicht auf seiner Brust, fuhr gedankenverloren und glücksversunken durch den goldblonden Schopf, die großen, langen Finger durch ein Heer zartester Taue gebändigt und geborgen wissen.

Nun, nach Fortunas Raub und Grausamkeit, ist ihm in Zeiten der Not sowie des Leids nur ein fremder Polster geblieben, der nie das Haupt der Geliebten gebettet hatte, dessen kühler Baumwollbezug die Wärme ihres schlanken Körpers, den betörenden Duft ihres Haares ermangelte. Mit ausgezerrter Stimme und an der Decke haftenden Blick fragte der Clown: »Warum hast du mich verlassen?«

Da klopfte es an der Tür. Doch er reagierte nicht, sondern lag im kümmerlichen Versuch tot zu sein regungslos auf dem Hotelbette, ehe sich das Klopfen lauter und dringlicher wiederholte. Dann stand er unter leisem Seufzen auf und schlurfte lustlos zur Tür. Kaum hatte er diesen einen Spalt breit geöffnet, als er eines süßlich-schweren Dufts, im Charakter gleichermaßen betörend wie aufdringlich, gewahr wurde.

Es handelte sich um das Parfum der Frau, die vor ihm stand, deren Körper von hohem, aber hagerem Wuchs war. Unter dem schlichten, roten Kleid, das sie trug, bargen sich ein flacher Busen und eine schmale Hüfte. Aus kleinen, runden Knien wuchsen lange, dürre Waden und mündeten in schmächtige, von schwarzen Stöckelschuhen umhüllte Füßchen. Zwischen zierlichen Schultern stieg der bleiche Hals empor, auf dem ein Gesicht thronte, das sowohl pentagonal als auch oval zu sein schien, denn führte man den Blick vom runden Kinn beginnend über die Mitte des Antlitzes, fielen einem, nach kurzem Verweilen am kleinen, von prallen, roten Lippen umschlossenen Mund, unweigerlich die kräftigen Wangenknochen ins Auge, womit man schon die drei Punkte gefunden hatte, die mit den Enden der schmalen Stirn das Fünfeck bildeten.

Folgte man jedoch der geschwungenen Linie des Unterkiefers, welcher die eingefallenen, rötlich schimmernden Wangen begrenzte, über den Ansatz der langen Ohren zur Stirn, fand sich keine Ecke oder Kante. Zwischen den stark geschminkten Augen, deren dunkelbraune Iris sich kaum von der schwarzen Pupille schied, sondern ohne chromatischen Bruch in dieser aufging, als hätte man einen Tropfen schwärzester Tinte auf blütenweißes Papier stürzen lassen, wurzelte eine elegante Nase von durchschnittlicher Länge, deren stolzer Rücken ohne Bruch oder Höcker von der kleinen Senke am Ende Stirn bis zum zierlichen Knopf an der Spitze wuchs. Das pechschwarze Haar, das die helle Haut fast schon kränklich bleich erschienen ließ, war tief im Nacken zu einem Knoten gebunden.

Insgesamt war die Unbekannte von elbischer Erscheinung, besaß eine ätherische sowie ästhetizistische Aura, als hätte man sie dem Theater geraubt, der Malerei gestohlen. Sie sprach: »Ihr Paket.« Die Stimme war hoch, aber nicht schneidend oder schrill, jedoch leicht verschleiert, auf angenehme Weise belegt. Ratlos blickte Rigoletto auf die Kartonage, welche von großen, blassen Händen – bis auf einen goldenen Armreif ohne Schmuck – gehalten wurde, dann auf die Frau und wieder auf die Kartonage. Es war sonderbar. Er wusste nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte.

Zwar erwartete er sehnsüchtig ein Paket, doch die Überbringerin schien keine Botin zu sein, zumindest war sie nicht wie eine gekleidet. Auch fand sich keine Anschrift am Karton. Die Frau wiederholte: »Ihr Paket. Sagen Sie bloß, dass Sie Ihr Paket nicht wollen.« Trotz des unverfänglichen Inhalts der Worte, ließ der Ton, in dem sie gesprochen worden waren, keinen Zweifel daran, dass Rigoletto die Sendung entgegenzunehmen hatte.

Das ist zwar nicht die unbekannte Botin, sondern Dolores del Rio, aber die ehrenwerte Actrice hat ebenfalls schwarzes Haar und trägt auchein Kleid

Zögerlich umfassten seine Finger den Karton, doch bevor er ihr danken konnte, hatte sich die Unbekannte ohne ein Wort des Abschieds abgewandt und war in die Nacht verschwunden. Einige Augenblicke stand der Clown im Türrahmen, die Burst im Zimmer, die Hände samt Sendung am Gang, starrte auf den Teppich, ohne ihn zu sehen, dann wurde ihm unscharf, fast stumpf, Momente später jedoch mit nahezu transzendentaler Klarheit bewusst, dass er nicht nur ein Paket erwartete, sondern auch ein Paket in den Händen hielt. Dass dieses zu groß und zu schwer war, ja nicht einmal die richtige Form oder Verpackung hatte, spielte keine Rolle wurde von der leuchtenden Erkenntnis, dass es überhaupt ein Paket gab, überstrahlt, welche den glückstrunkenen Bajazzo blendete und dennoch keine Schuld daran trug, dass er sich am Tischbein die Zehe stieß, doch für ihn war es nicht mehr von Belang, glaubte er nun so viele Schmerzmittel einnehmen zu können, wie er wollte, um Gliederpein und Herzensweh auf ewig zu entrinnen.

Mit der Freude eines kleinen Kindes am Heilig Abend zelebrierte Rigoletto das Zerreißen der Kartonage, befreite mit der drängenden Zärtlichkeit eines bezauberten Liebhabers, der zum ersten Male am geliebten Busen lauschen darf, den begehrten Inhalt von der verhüllen Verpackung; nur barg sich ein falscher Körper unterm bekannten Kleide.

Irritiert, aber noch nicht seiner Hoffnung beraubt starrte der Clown auf den schwarzen Würfel am Tisch, verstand nicht, warum sich dieser in einer Medikamentensendung fand, anstatt den sonderbaren Gegenstand als Surrogat des Schicksals zu deuten. Nach Augenblicken bloßen Wunderns drückte er den größten der Knöpfe, welche sich über die Oberfläche verteilten, als handle es sich um einen Schachtelteufel in Verkleidung. Tatsächlich entpuppte sich der rätselhafte Kubus als magischer Leierkasten, spielte er doch ohne Zutun eines Werkelmanns Musik. Leise, liebliche Töne – zart und eindrücklich zu gleich – drangen aus dem schwarzen Zauberwürfel, banden sich einer seraphischen Melodie von inniger Herzenswärme, die nach wenigen Takten von einer reinen Sopranstimme übernommen wurde.

Rigoletto lauschte der Arie »Ruhe sanft« aus Mozarts Zaide; zuerst starr mit steifer Mine, dann verzog sich sein Gesicht mehr und mehr vor Leid und Schmerz, bis es zur Tragödienmaske entartet war und große, weiße Zähne gerahmt von gespannten Lippen zwischen zwei silbernen Bändern gewesener Tränen hervorlugten. Mit zitternder Hand und wackligen Beinen griff der Bajazzo nach seinem beigen Strohhut, dann flüchtete er aus dem Zimmer und schloss hinter dieser wundersamen Szene, welche sein gepeinigter Geist aus einer billigen, schwarzen Stereoanlage geschaffen hatte, die Tür. Unsicheren Schrittes torkelte er den Gang entlang.

»Wohin? Wohin?« schrien die Gedanken, aber die Füße kannten keine Antwort, kein Ziel, sondern nur eine Richtung, nämlich vorwärts. So schlurfte der Clown mit gebeugtem Haupt über viele Meter Teppich, querte mit gesenktem Blick manchen Durchgang, öffnete mit kummervoller Mine die eine oder andere Tür; kurzum ging, auch wenn der Gang rechteckigen Grundriss des Palais folgte, dreimal im Kreise, ehe ihm bewusst wurde, dass jene Ecke seinen Weg schon vorher gekreuzt hatte und es dauerte noch eine weitere Umrundung des Innenhofs, bis dem Vorwärts der Füße das Ziel Stiege an die Seite gestellt wurde.

Wen das Leid niederdrückt, der findet bisweilen auch in einer Stufe einen Abgrund, nur lag Rigoletto nach dem Sturz nicht tot am Schluchtenboden, sondern mit dumpfen Schmerz im Oberschenkel im Piano nobile beim Treppenfuß, starrte an die Decke und thematisierte abermals, wo er den Tod, der sich an diesem Abend so rar machte, nun endlich treffen könne, aber er kannte nur wenige Plätze in der fremden Stadt und von diesen schien keiner für das besondere Stelldichein geeignet zu sein. Er suchte nach einem Kriterium, das potentielle Todesfalle und gewöhnliche Sehenswürdigkeit sich teilten, damit nach jener gefragt werden konnte, um zu dieser zu gelangen, als eine kindlich helle Frauenstimme an sein Ohr drang:

»Geht es Ihnen gut? Braucht der Herr vielleicht Hilfe?« Der Clown wandte den Kopf, blickte einige Momente in ein Paar kleiner, blassgrüner Augen, das zu einem blondgelockten, schmalgesichtigen Zimmermädchen von zierlichem Wuchs gehörte, dann stand er unter Mühen auf und entgegnete: »Alles in Ordnung. Ich wollte nur gehen.« Nach kurzer Pause, einem durch Schweigen expressierten Gedankenstrich in gesprochener Sprache, ergänzte er spontan: »Zur Donau.« Ein Ziel, das offensichtlich keinen Treppensturz rechtfertigte, denn die junge Frau hakte sorgenvoll nach: »Ist wirklich alles in Ordnung? Soll ich vielleicht einen Arzt holen?« »Machen Sie sich wegen des kurzen Brainstormings am Boden keine Sorgen. Manchmal braucht man einfach eine andere Perspektive, aber Ihre Sorge ehrt mich. Nun habe ich Sie schon lange genug aufgehalten. Adieu,« trällerte der Clown und setzte seinen Strohhut auf, um ihn gleich darauf in einer respektvollen Geste des Abschieds kurz wieder abzunehmen.

Rigoletto würdigte übrigens auch das Gemälde seiner Majestät Kaiser Franz Josef keines Blickes

Dann schlenderte er wiegenden Schrittes im Versuche den Anfang des ersten Satzes von Mozarts Sonata facile zu pfeifen scheiternd, aber dennoch heiter klingend die Prunkstiege hinab, ohne die ausgeschmückte Kassettendecke auch nur eines Blickes zu würdigen. Seine Freude war keineswegs gespielt, sondern tatsächlich authentisch, gab es nun einen Ausweg, ja sogar einen Abfluss aus dem Meer an Qualen, das er Leben nannte:

Die Donau! Warum war er nicht früher darauf gekommen? Gebettet an den Busen einer Undine – so Rigolettos romantisierte Vorstellung vom Ertrinken – aus dem Leben sinken. Ein wahrer Göttertod! Es gab nur ein Problem. Der Bajazzo wusste zwar, dass es die Donau gab, aber leider nicht, wo er den Storm finden könne. In seiner allgemeinen Ratlosigkeit, des Sinnes vom nahenden Tode befreit, wandte er sich an die erste Person, die seinen Weg kreuzte.

Es handelte sich um eine hochgewachsene, durch schwarze Baskenmütze und dunkelrotes Damensakko gekleidete Frau von zarter Eleganz und keuschem Liebreiz, der im kastanienbraunen Haar den glaublauen Augen und der blassen Haut, die sich über die hohen Wangenknocken und das runde Kinn spannte, seinen Ausdruck fand. Doch die Frage, wie man den zur Donau käme, beantwortete nicht sie, sondern ein schlanker, hochgeschossener Mann im dunkelblauen Anzug, die zweite Hälfte des jungen Paares, und zwar mit einer Gegenfrage:

»Zu welcher wollen Sie denn?« Der Clown stutze: »Gibt es mehrere?« »Alte Donau, Neue Donau, Donaukanal und natürlich die Donau.« »Welche davon am Nächsten ist und wie ich dorthin komme. Für einen kurzen Spaziergang, um die Sorgen zu ertränken.« »Es ist nicht weit zum Donaukanal. Sie folgen dem Kärntner Ring in östlicher Richtung bis zum Schwarzenbergplatz. Dort biegen Sie links ab und gehen die Schwarzenbergstraße hinaus bis zum Ende beim Palais Erzherzog Carl. Dann entlang der Südfassade des Palais bis zur Annagasse, die-« Die Frau, dem Akzent nach zu urteilen Französin, fiel ihm ins Wort: »Simon, das ist doch viel zu kompliziert. Hören Sie nicht auf ihn; der Mann ist Philosoph. Beim Ausgang links und dann vor der Wiener Staatsoper rechts. Dieser Straße einfach folgen, dann kommen Sie zum Donaukanal. In einer Viertelstunde, zwanzig Minuten sollten Sie da sein. Im Zweifel einfach nach dem Weg fragen.« Rigoletto bedankte sich rasch, aber höflich, dann verließ er das Hotel.

Sofort umschloss ihn die schwüle Mailuft, drang durch den dünnen Leinenstoff seines Anzugs, schmiegte sich wie eine aufdringliche, aber gänzlich reizlose Verführerin, fast schon dirnenhaft an seine Haut und evozierte dabei unbarmherzig Erinnerungen an überfüllte Züge und verschwitzte Bettlaken. Während diese feuchtwarme Bewunderin ihre bleierne Hand in seinen Nacken steckte und mit ihren schmutzigen Fingern den ganzen Körper zu greifen suchte, stellte sich der Clown die Frage, ob sein Tod in den Armen der Donau, die ohne Zweifel noch fester zupacken würde, die erhoffte Erlösung brächte. Ekel stieg in ihm auf, als er imaginierte, wie sich die leichten Leinen vollsaugten, schwer und zudringlich zugleich wurden, wie das trübe Wasser des Flusses in jede Öffnung seines Körper zu dringen versuchte, während das Licht der Welt, mystisch-glänzender Widerschein des leuchtenden Mondes und der stolzen Stadt, von der formlosen Dunkelheit des Nichts verschlungen wurde. Nein, dieser Tod hatte nichts mit dem sanften Entschlafen am Busen einer zarten Undine gemein, sondern glich ehe dem grausamen Erstickungstod in den Fettschürzen einer adipösen Atropos.

Rigoletto war nicht der einzige, der Canios Qualen beobachette

Rigoletto ging dennoch weiter, auch wenn der Beschluss in die Donau zu gehen, verworfen war. Er setzte stumpf einen Fuß vor den anderen, trotte Schritt für Schritt über das Trottoir, kam mit jedem Abrollen der Sohle voran; zumindest war es nicht leugnen, dass er seine Distanz zu einem willkürlich festgelegten, aber fixen Punkte veränderte. Ein interessierter Betrachter, vielleicht nicht vom Berufe, aber sicher im Wesen Mathematiker, hätte, wenn er sich die Arbeit mächte, dem Kärntner Ring ein Koordinatennetz zu unterlegen, diese Bewegung sogar ausführlich beschreiben können, doch selbst wenn aus diesen Mühen ein stolzer Graph samt geheimnisvoller Buchstabenentourage erwachsen wäre, hätte niemand sagen können, ob der Bajazzo seinem Ziel näherkam, denn während seine Gliedmaßen sine consilio ac ratione fast schon maschinenhaft für Vortrieb sorgten, kamen seine Gedanken nicht von der Stelle.

Im kümmerlichen Wunschdelirium imaginierte Rigoletto allerlei schale Scenerie, blasse Kulissen wahnhafter Stücke, fauler Früchte einer inzestuösen Liaison, Kinder eines sehnenden Gemüts und eines gepeinigten Herzens. Aberwitz und Kitsch gaben sich erbötig die Hand zum lüsternen Reigen an frivolen Phantastereien, die nur die Vermisste zum Inhalte hatten. In wechselnder Erscheinung, einmal schamlos geil, die hagere Brust unverhüllt, das entblößte Becken aufreizend hingestreckt, einmal zärtlich keusch, der blonde Haarschopf sittsam hochgestreckt, die weichen Hände züchtig in den Schoß gelegt, jedoch immer in obszöner Klarheit modelliert trat sie auf die Bühne, schlüpfte ohne mahnendes Chorgeleit, ohne entlarvende, musikalische Begleitung in unterschiedliche Rollen, spielte die derbe Baubo ebenso wie die badende Susanna mit süßlichem Pathos.

Der tolle Geist des Bajazzos formte aus dem Satz seiner niedrigen Begierden blasse Welten, in denen das Geschehene ungeschehen gemacht werden konnte, in denen Fortuna der Wünsche willfährigste Dienerin war, anstatt über ihnen zu stehen, sodass es ohne Maß und Geschmack nicht dabei blieb, Lottes Tod durch Wort oder Tat zu verhindern, sondern ergänzend auch der eine oder andere Makel aus der Vita getilgt wurde. Als sich Rigoletto gar am Wunder der Resurrektion versuchte, befreite ihn Musik von seinen fiebrigen Gedanken.

Er befand sich vor der Ostfassade der Wiener Staatsoper unweit der Videowand, auf der – in einer Übertragung der gleichzeitig im Haus stattfindenden Pagliacci-Aufführung – gezeigt wurde, wie Canio den Schmerz seines gebrochenen Herzens besang. Stumm beobachtete der Clown, wie sich der Sänger schminkte, während Leid und Musik sich verdichteten. Erst als das Orchesternachspiel vom Klatschen und den Bravorufen des begeisterten Publikums abgelöst wurde, wandte er sich angewidert ab, um sich nach kurzer Wegstrecke auf seiner Bank niederzulassen. Die Frage seines Todes war immer noch offen.

Wie sollte er sterben, wenn das Sterben doch so schwer war, wenn die Medikamente nicht kommen, die Donau keine Zärtlichkeit kennt und die Wiener Tauben vielleicht auf Köpfe scheißen, aber anscheinend keine einschlagen? So oft schied man ungewollt und zufällig aus dem Leben, vom Grabstein erschlagen, durch den Sturz in den Saucenkessel einer vietnamesischen Nudelsuppenfabrik vom Leben gelöst, am Herzinfarkt zugrunde gehend, da die Zwangsprostituierte, die man aus Geiz gebucht hatte, mangels Deutschkenntnisse die Rettung nicht rufen konnte. Nicht, dass Rigoletto auf solchem Wege hätte sterben wollen, aber ein tragischer Unfall, weniger skurril, doch durchaus komisch, vielleicht ein Genickbruch nach einem Ausrutscher auf einer Bananenschale, käme nicht ungelegen, doch kein Stuckstück, gebrochen aus den prunkvollen Häuserfassaden, stürzte herab, ja nicht einmal ein Blatt aus einem nahen Baume fiel. Einzig der Wind ließ sich zu einer kleinen Grausamkeit hinreißen und blies dem Bajazzo den Hut vom Kopf, welcher neben den Füßen im Staub liegen blieb. So saß der Clown auf einer öffentlichen Bank in einer fremden Stadt, folgte unbekannten Menschen mit seinen Blicken, während seine Gedanken träge dahintrieben. Es pressierte nicht. Niemand wartete, niemand drängte.

Auch auf der Kärtner Straße zeigte sich der Tod nicht

Rigoletto sinnierte etwas, überlegte ein wenig, träumte ein bisserl, bis eine Frau gewandet im roten Kleide, umhüllt von süßlich-schweren Odeur einen Jeton in den Hut warf. Der Bajazzo nahm ihn in die Hand und blickte die Kärntner Straße hinauf. Als ein Gebäude mit der Aufschrift »Casino« sah, setzte er seinen Hut auf, dann ging er los.

Er wusste nicht, was ihn erwartete, wohl nicht der Tod, aber im schlimmsten Falle, würde er etwas Geld erhalten, womit er sich, falls der Schnitter diese Nacht keinen Dienst verrichtete, im Café Central Sachertorte und Schlagobers – eine würdige Henkersmahlzeit – kaufen könnte, um mit vollem Bauch und glücklichem Gaumen beim Sonnenschein sein Lebenslicht zu löschen. Die Spielbank befand sich in einem dreigeschoßigen, barocken Palais mit blassgelber Fassade an der Kreuzung Kärntner-Straße-Annagasse. Zu ebener Erde lag rechts des Eingang der Empfang, wo sich der Clown als Besucher registrieren ließ – eine Notwendigkeit, um das Casino überhaupt betreten zu dürfen – und erkundigte sich, wie man Jetons umtauschen könne, dann begab er sich in den ersten Stock, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Kaum hatte der Bajazzo den Spielsaal betreten, als Schreie an sein Ohr drangen. Eine Frau – in den Beschreibungen wahlweise als Hure, Schlampe oder Ochsenfickerin tituliert – habe nach hohen Verlusten am Roulettetisch ihr Glück selbst in die Hand genommen, sprich die verlorenen Jetons und einiger ihrer wertvollen Geschwister in der Handtasche verschwinden lassen. Es war ein Zaubertrick, der wenig Zuspruch fang, obschon keiner der Zeugen einen Scheiterhaufen verlangte, vielmehr vertraten die Rachsüchtigen unter den Bestohlenen die Ansicht, dass man der Verbrecherin den Rechtsinn wieder einprügeln könne, am besten mit der eigenen Faust.

Die dreiste Diebin eilte um die Ecke, versuchte sich an Rigoletto vorbeizuzwängen, doch dieser packte ihr Handgelenk und erklärte mit übertrieben sorgenvoller Stimme: »Sie sollten warten, sonst verpassen Sie den Zug ins Gefängnis.« »Lass mich, du Wichser.« »Sie haben es zu eilig. Schon ein Blick auf meine Schuhe verrät, dass ich kein Wichser bin.« »Lass mich los, oder ich knall dich ab, du Clown!« Besorgt wandte sich der Bajazzo, der zuvor Ausschau nach Hilfe gehalten hatte, um. Die junge Frau im dunkelroten Kleid, mit einer gleichfarbigen Schleife im dunkelblonden Haar zielte tatsächlich mit der Waffe auf ihn. »Sie?« stammelte der Clown, dann fasste er sich und schrie: »Zu Hilfe, zu Hilfe, sonst bin ich verloren, der listigen Schlampe zum Opfer erkoren.« Der Schuss hallte durch den Spielsaal. Die Frau riss sich los, lief aber nicht die Stiege hinab, sondern eilte in den Spielsaal zurück, während das Gros der Casinobesuche von Panik getrieben umherstolperte.

»Sie hat geschossen. Mich hat’s getroffen. Es ist vorbei, für mich und für den Anzug. Das Blut kann man noch auswaschen, aber die Löcher sind das Todesurteil. Ein komisches Gefühl zu sterben,« konstatierte Rigoletto trocken, nahm seine Hand von der Brust und betrachtete ungläubig sein eigenes Blut. Staunend mit vor Überraschung weitgeöffneten Mund blickte er in die Gesichter derer, die einen Kreis um ihn gebildet hatten. Sie schwiegen, starrten stumm und dumm einer Herde Esel gleich.

Nur ein älterer Herr mit schütterem grauen Haar und fleckigem Sakko nuschelte, dass jemand doch endlich die Polizei rufen solle, doch Rigoletto wollte das nicht, er wollte sterben, wollte nicht mehr ohne Charlotte leben müssen und war schon im Begriff seinen Kopf zu drehen, diesen Mann, der an der Bar saß und seinen riesigen Bauch zwischen Tresen und Hocker zwängte, anzuschauen und ihm zu sagen, dass ihm die Polizei auch nicht mehr helfen könne, doch dann entschied er sich anders, niemand würde den Worten eines Sterbenden Beachtung schenken. Rigoletto fiel auf die Knie und hoffte auf den Tod, harrte dem Ende dieser Farce. Paare dumpfer Augen schauten ihm dabei zu, warteten, dass etwas passierte. Leere Blicke bestürmten ihn, für die Gaffenden zu handeln, drängten ihn dazu, die Vorstellung fortzuführen, die mit den Schüssen ihre Klimax erhalten hatte, und so begann er zu erzählen: »Liegt ein toter Clown in der Wüste und wird von zwei Geiern gefressen; sagt der eine zum anderen-«.

Sie stand am Fenster, blickte hinab in die Annagasse, beobachtete das stille Treiben in der schmalen Seitenstraße, als gäbe es im Spielsaal nichts, das ihrer Aufmerksamkeit Wert wäre. Die filigranen Finger stemmten sich kraftvoll gegen die Fensterbank, ließen durch diesen Akt der Anstrengung die dürren Sehen hervortreten, wodurch die Narbe, als wollte man sie dafür bestrafen, dass sie den Rücken der linken Hand entstellte, in eine groteske Form gezwungen wurde. Die jadegrünen Augen, deren Ränder von zarten, rosa Äderchen durchzogen waren, schimmerten schwach im Widerschein der matten Casinobeleuchtung. Das goldblonde Haar trug sie offen, sodass die Locken wie ein goldener Vorhang über die zierlichen Schultern fielen, zwischen dem eine große Nase mit geradem Rücken und breiten Flügeln wie ein Stück Elfenbein hervorragte. Ein weißes Kleid, welches von bestimmter Schlichtheit war, bedeckte den dürren Körper, verhüllte die dünne Brust.

»Was hat jetzt der eine Geier zum anderen gesagt oder war das wieder einer dieser depperten Antiwitze? « schrie einer der Gaffer aus der Menge und riss Rigoletto aus seiner Starre, der seine offene Hand gen die blonde Frau richtete, die er irritiert beäugte, um wenige Augenblicke später mit vor Leid gebrochener Stimme hervorzustoßen: »Charlotte! Gott! Meine geliebte Charlotte! Nein, es ist unmöglich; es muss ein Wahnbild sein. Sie ist es! Charlotte, meine Liebste, antworte mir. Teurer Engel, sieh mich an. Hab Erbarmen, meine Taube. Du darfst mich nicht verlassen, nicht noch einmal. Furchtbarer Gott, warum nimmst du mir das Leben, schenkt mir aber den Lebenswillen? Nein, alles Lüge. Alles Trug. Nur die Phantasien eines Sterbenden. Charlotte, du bist tot. Du bist tot! Welch ein Fluch, sie ist tot, meine Charlotte

Beliebige Casinoscenerie

Der Clown wandte seinen Kopf, blickte ungläubig in die kalten Augen seiner Mörderin, starrte sie einige Augenblicke fassungslos an, dann kippte er nach vorne und ging mit blutroter Brust zu Boden, vom herannahenden Tod in den Staub gestoßen. Unter Bindung seiner letzter Kräfte versuchte er sich aufzurichten, wollte noch einmal das Trugbild sehen, das falsche Lächeln blicken, das ihn wie das Lockmittel transzendenter Mächte schien, doch seine Reserven waren erschöpft, er schaffte es nicht, blieb im Staub liegen, zu dem er bald werden würde, stöhnte seine Anstrengung und sein Leid in den grünen Teppichboden des Casinos, dessen sanfte Farbe sich mit dem Blut des Clowns biss. Eine Mauer aus Beinen in Hosen und Strümpfen verwehrte ihm den Blick zum Fenster, versperrte ihm den Pfad ins geborgte Glück, hielt die letzte Illusion, die schönste aller Lügen zurück.

Ein Schuss, fiel, dann ein zweiter. Menschen plärrten. Beine bewegten sich. Die Mauer fiel. Der Platz am Fenster war leer. Rigoletto schloss die Augen, verschloss sie vor der Wahrheit und als er sie in der Hoffnung öffnete, dass er sich geirrt hatte, dass doch jemand am Fenster stand, blickte er in das Gesicht einer Blondine. Die azurblauen Augen waren starr, die Pupillen geweitet, die kleine dunkelrote Schleife verrutscht und der Teppich aus dunkelblondem Haar, der sich über ihre roten Lippen gelegt hatte, trug lieblichen Zierrat aus kleinen Blutstropfen. Die Mörderin war ermordet worden.

Der Gerechtigkeit hatte man vielleicht sogar genüge getan, eine Frage die Philosophen zu beantworten hätten, doch es spielte für Rigoletto keine Rolle mehr. Die Dame hatte ihr Leben ausgehaucht und der Clown pfiff auch nur noch aus dem letzten Loch, sodass er die Leiche weder als Mahnmal des herannahenden Todes noch als Zeichen für Fortunas Launenhaftigkeit sah, sondern einfach nur als Hindernis, das ihm den Blick zum Fenster verstellte.

Unfähig sich zu bewegen, den Kopf zu heben, um das Trugbild zu suchen, um zu schauen, ob es sich gar hinter ihm barg und um ihn weinte, unfähig, ihn seinen falschen Armen Geborgenheit zu finden, stöhnte er mit letzter Kraft »Charlotte« und hauchte mit diesem leisen Ruf nach seiner Liebsten sein Leben aus, sodass er nicht mehr Zeuge wurde, wie die Menge in Panik und Schock zerstob.

Nur eine kleine Gruppe älterer Damen hatte unter einem Roulettetisch Schutz gesucht, da das Laufen in diesem Alter nicht mehr so einfach von der Hand ging, betrachtete von diesem Ausguck den Körper im beigen Leinenanzug mit den roten Flecken, der einem Clown gehört hatte, der nun nach Frau und Freude auch sein Leben an Fortunas Furor verloren hatte und erzählte sich wie schrecklich das Erlebte gewesen sei, auch wenn man nicht wie der Clown leblos, am grünen Casinoboden lag. Nichtsdestotrotz wurde der hilflose, da tote Rigoletto im Mitleid begraben, ohne dass man sich auch nur ansatzweise interessierte, wer der Leiche Vorgänger überhaupt war.

Rasch verbreitete sich die Kunde dieses schrecklichen Verbrechens, das allgemeine Bestürzung hervorrief, weshalb die auflagenstärkste österreichische Tageszeitung am nächsten Morgen titelte: »Sch(l)uss mit lustig. Starclown Rigoletto ermordet« und ergänzte darunter in kleinen, roten Lettern: »Karotte war sein letztes Wort, dann trugen ihn die Englein fort.«
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